Der falsche Apostel
Zeit erhob sich ein Hügel, ein wenig abseits von den anderen. Es
handelte sich um eine uralte Grabstätte, eine sogenannte
dumma
. Umringt war sie von Säulen aus Granit mit eingemeißelten Schriftzeichen in Ogham, der alten irischen Schrift, die mit der
Einführung des Neuen Glaubens dem Lateinischen hatte weichen müssen. Im Dunkeln ließ sich nichts weiter erkennen, doch Tressach
wusste auch so, dass dieses Grab reicher geschmückt war als die anderen. Unter dem Sturz aus einem Granitblock befanden sich
schwere Eichentüren, mit Kupfer und Bronze beschlagen und mit Eisenbändern verstärkt. Die Täfelungen waren mit Gold- und Silberarbeiten
besetzt.
Es war eins der ältesten Gräber in Tara. Wollte man den Chronisten Glauben schenken, so war es um die tausendfünfhundert Jahre
alt und die letzte Ruhestätte von Tigernmas, dem sechsundzwanzigsten Hochkönig. Er war als »Herr des Todes« in die Geschichte
eingegangen; von allen Königen aus alten Zeiten hatte er die meisten Kriege geführt und allein in einem Jahr neununddreißig
Schlachten gewonnen. Während seiner Herrschaft, so berichteten die Geschichtenerzähler, wurden in Irland die ersten Gold-
und Silberminen entdeckt und Schürfungen begonnen. Tigernmas wurde ein reicher und mächtiger König. Er verfügte, dass die
Menschen Kleidung mit unterschiedlichen Farben zu tragen hatten, an denen ihre Clanzugehörigkeit und ihr Rang in der Gemeinschaft
zu erkennen waren.
Unter all den Gräbern, an denen Tressach an diesem ohnehin unheimlichen Abend vorbei musste, war es das von Tigernmas, vor
dem er sich am meisten fürchtete. Die Chronisten wussten |408| zu berichten, dass Tigernmas sich von den alten Göttern abgewendet hatte, um ein Idol zu verehren, dessen Kult mit Blutvergießen
und Rachetaten einherging. Anlässlich des Samhain-Festes ließ er auf der Ebene Magh Slecht Menschenopfer darbringen. Daraufhin
ereilte ihn ein grausames Schicksal. Tigernmas und all seine Gefolgsleute starben an einer seltsamen Krankheit; seinen Leichnam
brachte man nach Tara zurück, um ihn neben den anderen Königen zu bestatten.
Tressach war mit der Geschichte nur allzu gut vertraut und hätte etwas darum gegeben, wenn er sie zu dieser Stunde aus seinen
Gedanken hätte verbannen können. Mit der einen Hand hielt er den Griff seines Schwertes fest umklammert, mit der anderen die
Laterne etwas höher. Es beruhigte ihn. Er war im Begriff, an der Grabstätte des Tigernmas vorbeizuhasten, als ihn ein Schrei
lähmte. Beine und Arme wollten ihm nicht länger gehorchen. Es war ein gedämpfter Schrei, ein erstickter Schmerzensschrei.
Unmittelbar darauf rief eine gequälte Stimme: »Zu Hilfe! Gott, erbarme dich!«
Tressach brach der kalte Schweiß aus. Er war außerstande, sich zu bewegen oder einen Laut hervorzubringen; die Kehle war ihm
wie zugeschnürt und ausgetrocknet.
Nur das eine war ihm klar – der Schrei war aus der seit Jahrhunderten versiegelten Gruft des Tigernmas gekommen.
Abt Colmán, der geistliche Ratgeber der Großen Versammlung der Stammesfürsten der fünf Königreiche Irlands, ein untersetzter
Mann mit rötlichem Gesicht und Mitte fünfzig, erhob sich, um die junge Nonne zu begrüßen, die soeben sein Zimmer betreten
hatte. Sie war eine große Frau mit graugrünen Augen, und selbst ihr Schleier konnte das rote Haar nicht bändigen.
|409| »Es tut immer wieder gut, dich hier in Tara zu sehen, Schwester Fidelma! Nur beglückst du uns allzu selten mit deinem Besuch.«
Mit ausgestreckten Händen ging er auf sie zu.
»Dominus tecum«
, erwiderte sie ernst und ließ mit dieser Anrede nicht das Protokoll außer Acht. Der schmunzelnde Abt wehrte kopfschüttelnd
ab, ergriff warmherzig ihre Hände und führte sie zu einem Stuhl am Feuer. Sie waren alte Freunde, doch war eine lange Zeit
verstrichen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten.
»Ich hatte mich schon besorgt gefragt, ob wir dich zu unserer Versammlung hier würden begrüßen dürfen. Alle anderen Richter
und Anwälte sind bereits eingetroffen.«
Mit einem schelmischen Lächeln sah ihn Schwester Fidelma, die zum Kloster der Heiligen Brigid von Kildare gehörte, an.
»Von einem Konvent wie diesem fernzubleiben, hätte ich mir nicht verzeihen können. Dafür stehen zu viele strittige Punkte
zur Debatte, wegen denen ich mich mit dem Obersten Richter anlegen möchte.«
Ihre Antwort stimmte den Abt heiter, und freudig erkundigte er sich, ob ihr ein
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