Der falsche Apostel
nachzukommen, aber den Blicken der um die Festtafel
Versammelten, ihrer gestelzten und gezwungenen Unterhaltung, der eisigen Kälte, die in der Luft hing, war zu entnehmen, dass
keiner von ihnen von dem Wunsch beseelt war, Nechtan großmütig zu verzeihen. Im Innern der Herzen schwelten andere Gedanken.
Das Mahl näherte sich dem Ende, und Nechtan erhob sich. Er war ein Mann in mittleren Jahren. Auf den ersten Blick hätte man
ihn fast für einen fröhlichen und freundlichen Menschen halten können. Von der Statur her war er klein und rundlich, die Haut
war rosig wie die eines Kindes, nur die Hängebacken störten ein wenig. Das lange, silbrig glänzende Haar trug er sorgfältig
zurückgekämmt. Die Lippen waren schmal und von rötlich frischer Farbe. Die insgesamt angenehmen Züge ließen nichts von dem
grausamen Gemüt vermuten, mit dem er seine Untergebenen beherrschte. Nur wenn man ihm in die stechend blauen Augen sah, bekam
man die unerbittliche Härte des Mannes zu spüren. Es waren fahle, tote Augen, die Augen eines gefühllosen Menschen.
Nechtan bedeutete dem einzigen Bediensteten, der im Saal stand und den Gästen Wein eingeschenkt hatte, seinen Becher aus dem
Krug auf dem Beistelltisch aufzufüllen. Der junge Mann kam der Anweisung nach und erklärte: »Der Wein geht zur Neige. Soll
ich den Krug wieder füllen lassen?« Nechtan verneinte mit einem Kopfschütteln, entließ den Burschen mit einer raschen Handbewegung
und sah sich mit seinen Gästen allein. |439| Für die anderen kaum wahrnehmbar seufzte Fidelma gequält. Der Verlauf des Festmahls war schon peinlich genug gewesen, eine
Rede von Nechtan konnte es nur noch schlimmer machen.
»Liebe Freunde«, begann er geradezu leutselig und blickte ohne innere Anteilnahme in die Runde. »Ich denke doch, ich darf
euch so nennen. Seit langem hege ich den Wunsch, mit euch zusammenzukommen und jeden Einzelnen von euch um Verzeihung zu bitten
wegen des Unrechts, das ich einem jeden angetan habe.«
Erwartungsvoll schaute er sich um, stieß aber auf eisiges Schweigen. Fidelma war die Einzige, die den Kopf ein wenig hob,
um seinem leeren Blick zu begegnen. Alle anderen starrten auf die vor ihnen stehenden Teller.
»Ich bin euch heute Abend gewissermaßen ausgeliefert«, fuhr er fort und gab sich, als bemerkte er nicht die Ablehnung, die
ihm entgegenschlug. »Ich habe mich an euch allen vergangen.«
Er wandte sich an den älteren, schweigenden und nervös wirkenden Mann zu seiner Linken, der die ganze Zeit an seinen Fingernägeln
knabberte, eine Angewohnheit, die Fidelma widerlich fand. Unter den gehobenen Schichten galten wohlgeformte Hände mit schmalen
Fingern als schön. Fingernägel wurden fein säuberlich rund geschnitten, und die meisten Frauen färbten sie auch leuchtend
rot. Auf einen Mann in besserer Stellung mit ungepflegten Fingernägeln schaute man geringschätzig herab. Fidelma wusste, dass
er Nechtans Leibarzt war, umso mehr nahm sie Anstoß an seinen unsauberen, vernachlässigten Händen.
Nechtan versuchte es mit einem Lächeln, es war eher eine Verzerrung der Lachmuskeln als der Ausdruck irgendwelcher Gefühle.
|440| »Ich habe dir Unrecht getan, Gerróc, mein Arzt. Ich habe dich ständig um deine Bezahlung betrogen und dennoch deine Dienste
in Anspruch genommen.«
Der Alte rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her und meinte achselzuckend: »Du bist mein Stammesfürst.«
Nechtan verzog – fast ein wenig amüsiert ob der Antwort – das Gesicht und sprach nun die etwas füllige, aber immer noch gutaussehende
Frau mittleren Alters an, die neben Gerróc saß. Sie war außer Fidelma die einzige Frau in der Runde.
»Du warst meine erste Frau, Ess. Ich habe mich von dir scheiden lassen, dich der Untreue bezichtigt und dich aus dem Haus
gejagt. Dabei ging es mir nur darum, in den Armen einer jüngeren und hübscheren Frau zu liegen, in die ich mich verliebt hatte.
Meine Anklage lautete auf Ehebruch, und damit habe ich dich zu Unrecht um deine Mitgift und deinen Erbanspruch betrogen. Insofern
habe ich dich auch vor unserem Volk in Verruf gebracht.«
Ess saß mit steinerner Miene da, nur ein gelegentliches Augenblinzeln verriet, dass sie seine Worte wahrgenommen hatte.
»Neben dir sitzt mein Sohn,
unser
Sohn Dathó«, fuhr Nechtan fort. »Indem ich deiner Mutter Unrecht getan habe, habe ich auch dir Schaden zugefügt, Dathó. Ich
habe dir deinen rechtmäßigen Platz in unserem Stamm der
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