Der falsche Apostel
bitter-süßlichen Geruch, konnte ihn aber nicht einordnen und sah den Arzt fragend an.
»Gift, sagst du?« Die Frage erübrigte sich. Er nickte.
Sie richtete sich auf und schaute in die bestürzte Tischrunde. Ausnahmslos wirkte die Gästeschar verstört, aber Trauer oder
Empörung über den Tod des Stammesfürsten war in keinem der Gesichter zu lesen. Niemand hatte es auf dem Platz gehalten, alle
standen ratlos umher.
Wieder ergriff Fidelma das Wort: »Wie es mir als Anwältin zukommt, übernehme ich es, unsere Zusammenkunft zu leiten. Ein Verbrechen
ist begangen worden. Jeder in diesem Raum hätte ein Motiv gehabt, Nechtan zu töten.«
»Das betrifft auch dich«, erklärte Dathó. »Ich verwahre mich dagegen, von jemandem befragt zu werden, der selbst der Täter
sein könnte. Woher wollen wir wissen, dass nicht du das Gift in den Becher getan hast?«
Überrascht und mit hochgezogenen Augenbrauen, nahm Fidelma die Anschuldigung des jungen Mannes zur Kenntnis, konnte sich aber
nach kurzer Überlegung der Logik seines Arguments nicht entziehen.
»Du hast mit deiner Bemerkung recht, Dathó. Auch ich hätte ein Motiv gehabt. Und solange wir nicht herausgefunden haben, wie
das Gift in den Becher kam, kann ich nicht beweisen, dass ich es nicht war. Das gilt für jeden von uns hier. Wir haben über
eine Stunde gemeinsam an diesem Tisch gesessen, konnten einander gut sehen, haben den gleichen Wein getrunken. Es dürfte uns
also gelingen, festzustellen, wie Nechtan vergiftet wurde.«
|449| Marbán nickte zustimmend. »Der Meinung bin ich auch. Wir sollten auf Fidelma hören. Stammesfürst der Múscraige bin ich jetzt,
und als solcher sage ich, wir sollten Fidelma beauftragen, die Sache zu klären.«
»Stammesfürst bist du nur, wenn erwiesen ist, dass nicht du es warst, der Nechtan getötet hat«, warf Daolgar lässig hin. »Schließlich
hast du unmittelbar neben ihm gesessen. Du hattest nicht nur ein Motiv, sondern auch die Gelegenheit.«
»Bis der Rat es nicht anders entscheidet, bin ich Stammesfürst«, wies ihn Marbán ärgerlich zurecht. »Und ich sage weiterhin,
dass Schwester Fidelma, solange der Rat es nicht anders verfügt, in meinem Auftrag handelt. Wir sollten jetzt alle unsere
Plätze wieder einnehmen und Fidelma schalten und walten lassen.«
»Da mache ich nicht mit«, wehrte sich Dathó. »Angenom men , sie ist die Schuldige, dann ist es ein Leichtes für sie, einem von uns die Schuld zuzuschieben.«
»Weshalb überhaupt jemandem die Schuld zuweisen? Nechtan hat es doch verdient, zu sterben!« Der unduldsame Zwischenruf kam
von Ess, der früheren Frau des toten Stammesfürsten. »Nechtan hat den Tod verdient«, wiederholte sie nachdrücklich. »Tausendmal
und mehr hat er den Tod verdient. Niemand anders hier dürfte ihn fröhlicheren Herzens in die Anderswelt gesandt sehen als
ich. Hätte ich die Tat begangen, würde ich es ohne weiteres eingestehen. Wer immer es war, dem Täter kann man schwerlich etwas
zur Last legen. Er hat die Welt von einem Schädling befreit, von einem Untier, das vielen Leid und Qual bereitet hat. Alle,
wie wir hier sitzen, sollten bezeugen, dass kein Verbrechen geschah – einfach eine gerechte Strafe. Wer die Tat begangen hat,
soll sich erklären, und er erfährt unsere Unterstützung.«
Verhalten lauernde Blicke wanderten von einem zum anderen. |450| Niemand schien Ess widersprechen zu wollen, aber ebenso schien niemand bereit, die Tat zuzugeben.
Fidelma erwog die Sachlage unter dem rechtlichen Aspekt. »Nach dem Gesetz müssten wir alle Beweise für die Schändlichkeiten,
die Nechtan begangen hat, erbringen. Dann würde der Schuldige nur den Ehrenpreis für Nechtan an seine Familie zahlen müssen
und ansonsten ungeschoren davonkommen. Es wäre eine Summe von vierzehn
cumal
…«
Sie hatte ihren Satz nicht zu Ende sprechen können, als sie Dathós bitteres Auflachen unterbrach.
»Und was, wenn einer von uns gar nicht über eine Herde von zweiundvierzig Milchkühen verfügt? Wird die Entschädigung nicht
gezahlt, sieht das Gesetz andere Strafen für den Schuldigen vor.«
Marbán grinste von einem Ohr bis zum anderen und erklärte gönnerhaft: »Ich stelle gern den Ehrenpreis zur Verfügung, das ist
mir die Sache wert.« Der sonst so wortkarge Krieger erwies sich plötzlich als äußerst entschlussfreudig.
Jetzt beugte sich Cuill, der junge Künstler, vor, der bisher geschwiegen hatte. »Wer also die Tat begangen hat, sollte
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