Der falsche Apostel
Marbán sie an; er schien nicht überzeugt.
|456| »Reich mir den Krug und einen neuen Becher«, verlangte sie.
Es geschah. Sie goss sich den Bodensatz aus dem Krug in den Becher, betrachtete ihn prüfend, stippte den Finger hinein und
leckte ihn vorsichtig ab. Selbstgefällig lächelte sie in die Runde.
»Ich habe es ja gesagt, der Wein ist nicht vergiftet«, wiederholte sie. »Das Gift war in dem Becher.«
»Wie aber ist es da hineingekommen?«, rätselte Gerróc.
Fidelma wandte sich dem Bediensteten zu. »Ich glaube, wir brauchen dich nicht weiter, Ciar. Du kannst gehen, aber warte bitte
draußen. Es könnte sein, dass wir dich später noch einmal rufen. Von dem, was du hier gesehen und gehört hast, bitte zu keinem
ein Wort. Verstanden?«
»Ja, Schwester.« Er zögerte. »Aber wie soll ich mich gegenüber Brehon Olcán verhalten? Er ist vorhin gerade angekommen. Soll
ich auch ihm nichts sagen?«
»Wer ist dieser Richter?«, fragte Fidelma stirnrunzelnd.
»Olcán ist ein Freund von Nechtan, ein hoher Richter in unserem Stamm«, erklärte ihr Marbán. »Sollten wir ihn nicht hinzuziehen?
Schließlich hat er das Recht, die Angelegenheit hier mit zu beurteilen.«
»War er für heute Abend eingeladen?« Sie stellte die Frage mit zusammengekniffenen Augen.
»Erst, als das Mahl schon begonnen hatte«, lautete die Auskunft, und sie kam von Ciar. »Nechtan beauftragte mich, einen Boten
zu Olcán zu schicken. Der sollte den Richter bitten, herzukommen.«
Fidelma überlegte rasch. »Er soll draußen warten. Über das, was hier geschehen ist, darf er nicht eher etwas erfahren, als
bis ich es sage.«
Ciar ging, und sie widmete sich wieder den ausharrenden Gästen.
»Wir sind uns jetzt also darüber im Klaren, dass das Gift nicht |457| im Wein, sondern im Becher war. Damit engt sich der Kreis der Täter ein.«
»Was willst du damit sagen?«, drängte Daolgar von Sliabh Luachra.
»Nicht mehr und nicht weniger, als dass das Gift in den Becher geraten sein muss, nachdem Nechtan den ersten Becher geleert
und Ciar ihm nachgeschenkt hatte. Das Gift ist erst in den wieder aufgefüllten Becher gelangt.«
Daolgar lachte höhnisch los. »Dann habe ich die Lösung. Es gibt nur zwei aus dieser Runde, die das Gift in Nechtans Becher
hätten tun können.«
»Dann nenne sie«, forderte Fidelma ihn auf.
»Entweder Marbán oder Gerróc. Sie haben links und rechts von Nechtan gesessen. Leichte Sache, Gift in einen Becher zu tun,
der dicht vor einem steht, während wir anderen gebannt auf Nechtan blickten und lauschten, was er sagte.«
Marbán war rot vor Empörung geworden, aber der alte Arzt schien am meisten betroffen. »Ich kann beweisen, dass ich es nicht
war«, erklärte er mit erstickter Stimme.
»Du kannst es beweisen?«, fragte Fidelma verwundert.
»Ja, ja. Du hast gesagt, wir alle hätten Gründe gehabt, ihn zu hassen, und das heißt, dass wir ihn alle lieber tot als lebendig
gesehen hätten. Damit hätte auch jeder von uns ein Tatmotiv gehabt.«
»Richtig.«
»Ich als Einziger von euch allen habe gewusst, dass es sich erübrigte, Nechtan umzubringen.«
Fidelma brauchte eine Weile, ehe sie die nächste Frage stellte. »Inwiefern erübrigte es sich, Gerróc?«
»Weshalb sollte man einen Menschen töten, der so gut wie im Sterben lag?«
Lautstarkes Erstaunen ging durch den Raum. Erst, als es |458| abebbte, konnte Fidelma nachhaken: »Der so gut wie im Sterben lag?«
»Ich war Nechtans Arzt. Es ist wahr, ich habe ihn gehasst. Er hat mich um meinen Lohn gebracht, aber als Arzt habe ich hier
trotzdem mein Auskommen gehabt. Ich habe mich nicht beklagt. Meine Jahre sind gezählt. Ich war nicht gewillt, meine Sicherheit
aufs Spiel zu setzen, indem ich meinen Stammesfürsten sträflicher Handlungen bezichtigte. Es ist einen Monat her, da packten
Nechtan grässliche Kopfschmerzen. Ein- oder zweimal waren sie so arg, dass ich ihn ans Bett fesseln musste. Ich untersuchte
ihn und entdeckte eine Schwellung am Hinterkopf. Es war ein bösartiges Gewächs, schon innerhalb einer Woche war es viel größer
geworden. Wenn ihr mir nicht glaubt, könnt ihr euch selbst davon überzeugen. Die Geschwulst ist hinter dem linken Ohr, leicht
zu erkennen.«
Fidelma beugte sich über den Stammesfürsten und besah sich widerwillig die Schwellung hinter dem Ohr.
»Die Schwellung ist unverkennbar«, bestätigte sie.
Marbán versuchte, den alten Arzt zu einer logischen Schlussfolgerung zu bewegen.
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