Der falsche Apostel
vor Schmerz aufschrie und zusammenbrach, während du noch am Sprechen warst.«
Ihre Augen wurden etwas größer, und sie nickte.
»Man rühmt zu Recht deine Wahrnehmungsgabe und deine Art, den Dingen auf den Grund zu gehen, Fidelma. Nur gut, dass wir in
unserer Gemeinschaft jemand haben, der sich in solchen Fragen und in der Rechtsprechung der Brehons auskennt. Genau deshalb
habe ich dich holen lassen. Ich weiß, du bist gerade erst von deiner Reise zurück und wirst müde sein. Aber das hier lässt
keinen Aufschub zu. Ich möchte, dass du unverzüglich die Ermittlungen zu Silláns Tod aufnimmst. |23| Die Angelegenheit muss so rasch wie möglich aufgeklärt werden.«
»Warum so rasch, Ehrwürdige Mutter?«
»Sillán war ein wichtiger Mann. Er hat sich in unserer Umgebung auf ausdrücklichen Wunsch des Uí Failgi von Ráith Imgain aufgehalten.«
Schwester Fidelma wusste, was das bedeutete.
Kildare lag im Gebiet des Kleinkönigtums der Uí Failgi. Der Sitz der Könige der Uí Failgi war die Burg Ráith Imgain, nordwestlich
von Kildare am Rande der Einöde gelegen, die unter dem Namen »Moor von Aillín« bekannt war. Gleich mehrere Fragen gingen ihr
durch den Kopf, aber sie hielt den Mund. Fragen würde man später stellen können. Es war klar, dass die Äbtissin darauf bedacht
war, jegliche Feindseligkeit mit Congall, dem Kleinkönig, den man kurz und bündig nach seinem Stamm Uí Failgi nannte, zu vermeiden.
Der Gesetzgebung der Brehons zufolge überließ nämlich der Kleinkönig mit seiner Ratsversammlung den frommen Schwestern von
Kildare das Land, auf dem sie lebten, und konnte es ihnen jederzeit entziehen. Grundsätzlich wurde den Kirchen Grund und Boden
von den Clanversammlungen zugesprochen, denn so etwas wie privates Eigentum gab es im Königreich von Irland nicht. Das Land
wurde von den Ratsversammlungen, die die Geschicke der Stämme und Königreiche lenkten, aufgeteilt und vergeben.
»Wer war dieser Sillán? Ein Abgesandter der Uí Failgi?«, fragte Fidelma.
Schwester Ethne kam mit einer Auskunft zu Hilfe, wobei sie ihre Sätze mit den unvermeidlichen Schniefern unterbrach.
»Er war ein
uchadan
, ein Handwerksmann, der in den Minen von Kilmatan arbeitete. So hat es mir jedenfalls Follaman, der für das Gästehaus zuständig
ist, erzählt.«
»Was hat er hier gewollt?«
|24| Warf die Äbtissin Schwester Ethne einen warnenden Blick zu? Schwester Fidelma erhaschte eine unfreiwillige Augenbewegung ihrer
Mitschwester zu der Äbtissin, konnte aber nicht so schnell deren Reaktion verfolgen. Schade.
»Also gut. Ich übernehme die Untersuchung des Falls. Habe ich deine Vollmacht, jeden nach meinem Gutdünken zu befragen?«
»Du bist eine
dálaigh
des Gerichtshofes der Brehons, mein Kind.« Die Äbtissin lächelte gequält. »Du bist Anwältin im Rang eines
anruth
. Du brauchst dem Gesetz nach meine Vollmacht nicht. Du hast die Vollmacht der Brehons.«
»Ich brauche aber deine Erlaubnis und deinen Segen als Vorsteherin meiner Gemeinschaft.«
»Dann sollst du sie haben. Ich stelle dir die
tech-screptra
, die Bibliothek, für deine Arbeit zur Verfügung. Wenn es etwas zu berichten gibt, lass es mich wissen. Gehe mit Gott.
Benedictus sit Deus in Donis Suis
.«
Schwester Fidelma beugte das Knie.
»Et sanctus in omnibus operibus Suis«
, erwiderte sie.
Schwester Ethne hatte für zwei Lampen, einfache unglasierte Töpferware, gesorgt, die seitlich spitz zuliefen und so einem
Docht Halt verliehen. Auf diese Weise erhielt die düstere gewölbte
tech-screptra
ein wenig Licht. Die Bibliothek barg alle Bücher und sonstigen Schätze des Hauses der heiligen Brigid. Fidelma hatte dort
Platz genommen, wo sonst der
leabharcoimdaech
, der Bibliothekar, saß, der die wertvollen Werke hütete. Der kostbare Schatz der Handschriften hing in säuberlich angeordneten
Reihen an den Wänden verteilt in kunstfertig gearbeiteten Lederranzen. Die
tech-screptra
von Kildare konnte sich rühmen, viele alte »Ruten der
fili
« zu besitzen, Stäbe aus Haselnuss und Espe, in die die Lettern in Ogham-Zeichen eingeschnitzt |25| waren, Zeugnisse aus uralten Zeiten, lange bevor die Schreiber in Irland dazu übergegangen waren, ihr Wissen mit Hilfe des
lateinischen Alphabets festzuhalten.
In der Bibliothek flackerte ständig ein Feuer, damit keine Feuchtigkeit in die Folianten dringen konnte. Trotzdem war es kühl.
Schwester Ethne hatte sich als Verwalterin des Hauses angeboten, Fidelma behilflich
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