Der falsche Apostel
Raum mit einer Leiche. Zauberei? Nein. Die Planung eines listigen
Hirns.«
»Was geschah dann?«, erkundigte sich Talorgen und unterbrach so das atemlose Schweigen.
»Der Mörder verließ die Kammer, wie ich beschrieben habe. Er wollte die Illusion eines geheimnisvollen Geschehens erwecken,
denn die Person, der er das Verbrechen anlasten wollte, |208| war jemand, von dem er annahm, seine Landsleute würden ihn für einen Barbaren und Zauberer halten. Wie ich schon angedeutet
habe, wollte er den Verdacht auf dich lenken, Talorgen. Er verließ die Kammer und redete draußen vor Wulfstans Zimmer noch
eine Weile mit jemandem. Dann hörte er, wie der Balken in die Halterung fiel. Das war auch sein Alibi, denn es war ja klar,
dass die beiden vernommen hatten, wie Wulfstan, der noch lebte, den Balken vorlegte, um die Tür zu verriegeln.«
Raedwald legte die Stirn in Falten, als machte es ihm Mühe, ihren Argumenten zu folgen.
»Du hast die Tat hervorragend rekonstruiert«, sagte er langsam. »Aber es beruht alles nur auf Annahmen. Und es bleibt nur
eine Annahme, bis du den Mörder nennst und uns sein Motiv verrätst.«
Schwester Fidelma lächelte milde.
»Nun gut. Dazu wollte ich gerade kommen.«
Sie drehte sich um und ließ ihre Augen über die fragend zu ihr aufgerichteten Gesichter schweifen. Dann blieb ihr Blick an
den hochmütigen Zügen des Than von Andredswald hängen.
Eadred deutete das als Anschuldigung und war mit wutverzerrtem Gesicht aufgesprungen, ehe sie noch ein Wort gesagt hatte.
Rasch kam Ultan, der Verwalter, quer durch den Raum geschritten und baute sich schützend vor Schwester Fidelma auf, für den
Fall, dass Eadred sich von den Gefühlen, die sich deutlich auf seinem Gesicht abzeichneten, hinreißen lassen sollte.
»Du hast uns noch nichts zum Motiv gesagt«, meinte Dagobert, der Franke, ruhig. »Warum sollte der Than von Andredswald seinen
Vetter und Prinzen ermorden?«
Schwester Fidelmas Blick war immer noch auf den arroganten Angelsachsen gerichtet.
»Ich habe doch gar nicht gesagt, dass der Than von Andredswald |209| der Mörder ist«, stellte sie leise fest. »Was das Motiv angeht, so liegt es in den Gesetzen der angelsächsischen Gesellschaft
begründet, die, Gott sei’s gedankt, nicht die unseren sind.«
Abt Laisran sah sie fragend an.
»Erkläre dich näher, Fidelma. Das verstehe ich nicht.«
»Ein angelsächsischer Prinz erbt die Königswürde durch das Recht des Primogenitur. Das heißt, der älteste Sohn erbt alles.«
Dagobert nickte ungeduldig.
»Das ist auch in unserer fränkischen Thronfolge so. Aber wieso könnte das ein Motiv für den Mord an Wulfstan sein?«
»Vor zwei Tagen traf hier ein Bote aus dem Königreich der südlichen Angelsachsen ein. Seine Botschaft war für Wulfstan bestimmt.
Ich habe herausgefunden, wie diese Botschaft lautete.«
»Wie hast du das angestellt?«, wollte Raedwald wissen. »Kö niglichen Boten wird die Zunge herausgeschnitten, damit sie derlei Geheimnisse nicht verraten können.«
Fidelma grinste.
»Das hast du mir schon gesagt. Zum Glück hat der arme Mann schreiben gelernt, und zwar von Diciul, dem Missionar aus Éireann,
der das Christentum und die Gelehrsamkeit in euer Land gebracht hatte.«
»Und wie lautete die Botschaft?«, fragte Laisran.
»Wulfstans Vater ist gestorben, der Gelben Pest zum Opfer gefallen. Wulfstan war nun König der südlichen Angelsachsen und
wurde dringend nach Hause gerufen.«
Sie schaute Raedwald an.
Der nickte stumm.
»So viel hast du mir bereits verraten, als ich dich verhörte, Raedwald«, fuhr Fidelma fort. »Als ich dich fragte, ob du Wulfstan
liebtest, sagtest du mir, es stehe dir nicht an, deinen neuen |210| König zu mögen oder nicht zu mögen. Ein Versprecher, aber er machte mich auf ein mögliches Motiv aufmerksam.«
Raedwald schwieg.
»In einem derart barbarischen System der Thronfolge, wo die Reihenfolge der Geburt das einzige Kriterium für den Anspruch
auf ein Erbe oder ein Königreich ist, gibt es keinen Schutz. In Éireann wie bei unseren Vettern, den Britanniern, muss ein
Stammesfürst oder König nicht nur königlichen Geblüts sein, er muss auch von der
derbhfine
seiner Familie erwählt werden. Ohne einen solchen Schutz ist völlig klar, dass nur der Tod des Vorgängers alle Hindernisse
für einen Thronanwärter aus dem Weg räumt.«
Raedwald spitzte die Lippen und sagte leise: »Das stimmt.«
»Und nun, da Wulfstan tot ist, wird Eadred ihm auf
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