Der falsche Apostel
geliehen.«
Talorgen untersuchte das Taschentuch sorgfältig und nickte dann bedächtig.
»Er hat recht. Es ist das gleiche Tuch. Ich kann es an der Stickerei erkennen.«
»Wie ist es dann in Wulfstans Kammer gekommen?«
Talorgen zuckte die Achseln.
»Das weiß ich nicht. Ich erinnere mich, dass ich es gestern Morgen noch in meiner Kammer hatte. Dann bemerkte ich, dass es
weg war, und dachte, Dagobert hätte es sich geholt.«
Schwester Fidelma schaute Talorgen einen Augenblick lang unverwandt an.
»Ich schwöre es, Schwester«, sagte der Prinz von Rheged |200| ernst. »Außerhalb dieser Mauern hätte ich Wulfstan ohne Zögern umgebracht, aber hier auf diesem Gelände habe ich ihn nicht
getötet.«
»Du bist aufrichtig, Talorgen.«
Der junge Mann hob die Schultern.
»Ich stamme aus dem Haus des Urien von Rheged, dessen Lob unser großer Barde Taliesin sang. Urien war der Goldene König des
Nordens, der hinterlistig von einem Verräter niedergemetzelt wurde. Wir in unserem Hause sind unparteiisch, gerecht und aufrichtig.
Wir glauben an die Ehrlichkeit. Wir treten unseren Feinden im hellen Licht des Tages auf dem Schlachtfeld entgegen, nicht
bei Nacht in den finsteren Ecken irgendeiner Bettkammer.«
»Du sagtest, dass viele in dieser Gemeinschaft etwas gegen Wulfstan hatten? Dachtest du da an jemand Besonderen?«
Talorgen spitzte die Lippen.
»Unser Lehrer Finan hat oft gesagt, dass er die Angelsachsen hasst.«
Schwester Fidelma nickte.
»Ich habe schon mit Finan gesprochen.«
»Wie du bereits weißt, hat Dagobert sich vor zwei Tagen abends im Refektorium mit Wulfstan gestritten und ihm die Nase blutig
geschlagen. Dann waren da noch Riderch von Dumnonia, Fergna von Midhe und …« Schwester Fidelma gebot ihm mit einer Handbewegung
Einhalt.
»Ich denke, du hast den Beweis erbracht, Talorgen: Jeder in Durrow ist verdächtig.«
Schwester Fidelma fand Raedwald im Stall, wo er Vorbereitungen für die Rückreise in seine Heimat traf.
»Eine Frage möchte ich dir noch allein stellen, Raedwald. Muss ich dich an meine Autorität erinnern?«
|201| Der angelsächsische Krieger schüttelte den Kopf.
»Ich habe viel über euer Gesetz und eure Gebräuche gelernt, seit ich in eurem Land bin, Schwester. Ich bin nicht wie Eadred.«
»Und du hast unsere Sprache einigermaßen fließend sprechen gelernt«, sagte Fidelma. »Sprichst besser und verstehst mehr als
dein Vetter.«
»Es steht mir nicht zu, den Thronfolger des Königreichs der südlichen Angelsachsen zu kritisieren.«
»Aber ich glaube, du mochtest deinen Vetter Wulfstan nicht?«
Raedwald blinzelte überrascht ob ihrer unverblümten Frage und zuckte dann die Achseln.
»Ich bin nur ein Than im Hause Cissas, es steht mir nicht an, meinen neuen König zu mögen oder nicht zu mögen.«
»Warum hast du gestern Nacht nicht vor Wulfstans Kammer Wache gehalten?«
»Das habe ich nie getan. Sobald Wulfstan die Tür von innen verriegelt hatte, war er gut geschützt. Du hast die Kammer gesehen,
die er sich von Abt Laisran erbeten hat. Sobald er sich drinnen verbarrikadiert hatte, gab es scheinbar keinerlei Gefahr mehr
für ihn. Ich schlief in der Kammer nebenan und war immer bereit, falls er mich zu Hilfe rufen würde.«
»Aber er hat nicht um Hilfe gerufen?«
»Sein Mörder hat ihm gleich zuerst die Kehle durchgeschnitten. So viel war an seiner Leiche klar zu erkennen.«
»Es ist auch klar, dass er den Mörder freiwillig in seine Kammer gelassen hat. Deswegen muss er ihn gekannt und ihm vertraut
haben.«
Raedwalds Augen verengten sich.
Fidelma sprach weiter.
»Sag mir, der Bote, der gestern aus eurem Land hier eintraf, welche Botschaft brachte er Wulfstan?«
|202| Raedwald schüttelte den Kopf.
»Diese Botschaft war nur für Wulfstan bestimmt.«
»Ist der Bote noch hier?«
»Ja.«
»Dann möchte ich ihn gern befragen.«
»Du kannst ihn gern befragen, aber er wird dir nicht antworten.« Raedwald lächelte grimmig.
Schwester Fidelma presste verärgert die Lippen zusammen.
»Noch so ein angelsächsischer Brauch? Nicht einmal die Boten wollen mit Frauen sprechen?«
»Ja, ein angelsächsischer Brauch. Aber dies ist ein Brauch der Könige. Einem königlichen Boten wird die Zunge herausgeschnitten,
damit er niemals den Feinden mündlich die Botschaft verraten kann, die ihm von den Königen und Prinzen anvertraut wurde.«
Mit einer Handbewegung bat Abt Laisran alle, die er auf Schwester Fidelmas Geheiß in seinem
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