Der falsche Apostel
Abtei muss es echte Seeleute geben, sonst könnten sie hier schwerlich bestehen.«
»Abtei ist ein zu großartiger Name für Selbachs Ansiedlung«, ließ sich der zweite Ruderer vernehmen, der bislang geschwiegen
hatte.
»Da muss ich Maenach recht geben«, bestätigte Lorcán. »Abt Selbach ist vor zwei Jahren mit zwölf Brüdern hierhergekommen;
seine Apostel hat er sie genannt. Ganz junge Burschen |217| sind das, der jüngste ist vierzehn und der älteste kaum neunzehn. Sie haben diese Insel gewählt, weil sie so unzugänglich
ist und es nur wenige zuwege bringen, da zu landen. So ein Flechtwerkboot haben sie zwar, aber das benutzen sie nie. Es ist
nur für den dringendsten Notfall da. Vier- oder fünfmal im Jahr rudere ich hierher und bringe ihnen vom Festland, was sie
brauchen.«
»Dann haben wir also eine Einsiedelei vor uns«, meinte Fidelma. In Irland gab es viele Glaubensbrüder, die es vorzogen, als
Eremiten zu leben oder mit einigen Gleichgesinnten an einem abgelegenen Ort ein Gemeinwesen zu gründen, in dem sie zusammen
lebten und sich in weltferner Einsamkeit in die Geheimnisse des Glaubens versenkten. Fidelma hatte kein rechtes Zutrauen zu
den Eremiten und ihren in sich gekehrten Gemeinden. Ihr behagte es nicht, Gott dienen zu wollen, indem man sich von Seiner
größten Schöpfung abwandte – der Gemeinschaft von Männern und Frauen.
»Eine Einsiedelei ist das wirklich«, stimmte ihr Maenach düster zu. »Die Insel ist ja nicht groß. An sich müsste einer der
Brüder unsere Ankunft gesehen haben, doch keiner ist da, uns zu begrüßen.«
Lorcán hatte das Boot mit einem Seil an einem Felsen befestigt und half nun Fidelma beim Aussteigen, während Maenach mit seinem
Gewicht das Schwanken ausglich.
»Wir steigen lieber alle aus«, sagte Fidelma und meinte mehr ihre verängstigte Novizin, Schwester Sárnat. Das Mädchen, es
konnte keine sechzehn sein, krabbelte ihr brav hinterher und hielt sich dicht bei ihr wie ein Küken bei der Glucke.
Maenach verließ als Letzter das Boot und streckte und reckte sich wohlig, sobald er festen Boden unter den Füßen hatte.
Vor ihnen waren Stufen in den granitenen Abhang geschlagen, die zu einem engen Durchlass oben auf der Klippe führten. |218| »Du musst nur da hinaufsteigen, Schwester, und schon stehst du in Selbachs Ansiedlung«, bedeutete ihr Lorcán. »Wir warten
hier auf dich.«
Fidelma nickte und fragte Schwester Sárnat: »Willst du hier unten bleiben oder kommst du mit?«
Die Kleine zitterte, als stünde sie im kalten Wind, und jammerte kläglich. »Ich komme mit.«
Eigentlich war sie kein Kind mehr, wirkte aber wie eine Zehnjährige, die sich vor allem fürchtete und sich an den erstbesten
Erwachsenen klammerte, damit er sie vor möglichen Schreckgespensten schützte. Irgendetwas an dem Mädchen fesselte Fidelma.
Sie wunderte sich, was sie bewogen haben mochte, sich in ein Kloster zu begeben, so jung und unerfahren, wie sie war.
»Also gut, dann klettern wir hoch.« Vom Ufer rief Lorcán ihnen nach: »Bleib nicht so lange, Schwester. Der Wind nimmt zu,
und ehe es dunkel wird, haben wir Sturm. Je früher wir Chléire erreichen, desto eher sind wir im schützenden Hafen.«
»Wir sind gleich wieder da«, versicherte ihm Fidelma und begann mit dem Aufstieg. Sárnat blieb ihr auf den Fersen.
»Woher will der wissen, dass ein Sturm aufzieht?«, fragte sie keuchend, während sie Fidelma hinterherkraxelte. »Wir haben
doch herrliches Wetter.«
»Ein Seemann weiß das eben. Vom Himmel lassen sich manche Anzeichen ablesen. Hast du gestern Abend den Mond betrachtet?«
»Der war strahlend hell«, sagte Sárnat verwundert.
»Hättest du genau hingeschaut, dann hättest du bemerkt, er hatte einen rötlichen Schimmer. Die Luft stand still und war ziemlich
trocken. Da kann man fast sicher sein, dass stürmische Winde aus West heranziehen.«
Fidelma blieb stehen und zeigte auf verschiedene Pflanzen. |219| »Hier hast du noch weitere Anzeichen. Siehst du den Klee? Schau mal, wie die Stängel angeschwollen sind, und daneben der Löwenzahn,
die Blüten ziehen sich zusammen und schließen sich. Daraus lässt sich folgern, es wird bald regnen.«
»Woher weißt du so was alles?«
»Man muss nur mit offnen Augen durch die Welt gehen und auf die Alten hören, die haben Erfahrung gesammelt und kennen sich
aus im Wissen unserer Vorfahren.«
Mittlerweile hatten sie die Klippe erklommen und blickten von oben auf eine Senke in
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