Der falsche Apostel
Studierzimmer versammelt hatte,
sich einen Sitzplatz zu suchen. Auf ihren Mienen hatte sich, je nach ihrer Persönlichkeit, beim Betreten des Raumes entweder
Neugier oder Trotz widergespiegelt, als sie Schwester Fidelma vor dem Kamin mit dem hohen Sims stehen sahen. Sie war in Gedanken
versunken, hatte die Hände fromm vor sich gefaltet, schien sie nicht zu bemerken, während sie sich hinsetzten. Bruder Ultan,
der Verwalter des Klosters, stellte sich vor die Tür, die Hände im Ordensgewand verborgen.
Abt Laisran warf Fidelma einen besorgten Blick zu und setzte sich dann ebenfalls.
»Warum sind wir hier?«, fragte Talorgen barsch.
Fidelma hob den Kopf und schaute ihm in die Augen.
»Ihr seid hier, um zu erfahren, wie und durch wessen Hand Wulfstan gestorben ist«, erwiderte sie in scharfem Ton.
|203| Nach einer kurzen Pause bemerkte Eadred mit höhnischem Lächeln: »Wie mein Blutsverwandter Wulfstan gestorben ist, wissen wir
bereits, Frau. Durch die Zauberei eines Barbaren. Wer dieser Barbar ist, lässt sich leicht folgern. Es war einer von den Wilden,
den
welisc
, nämlich Talorgen.«
Talorgen sprang auf und ballte die Fäuste.
»Wiederhole diese Anschuldigung außerhalb der Klostermauern, und dann pariere ich dein Schwert mit dem meinen, du angelsächsische
Memme!«
Dagobert erhob sich und fuhr dazwischen, als Eadred von seinem Stuhl aufspringen und sich auf Talorgen stürzen wollte.
»Schluss jetzt!« Die sonst so freundlichen Züge Laisrans verzerrten sich vor Wut. Seine Stimme schnitt wie ein Peitschenhieb
durch die Luft.
Die Studenten der kirchlichen Schule von Durrow schienen zu erstarren. Dann fiel Eadred mit einem Lächeln auf seinen Stuhl
zurück, das eher Hohn als Belustigung ausdrückte. Dagobert zupfte Talorgen am Ärmel, und der Prinz von Rheged seufzte und
setzte sich wieder hin. Der fränkische Prinz tat es ihm gleich.
Abt Laisran grollte wie ein wütender Bär.
»Schwester Fidelma ist Anwältin am Gerichtshof der Brehons in Éireann. Was auch immer die Bräuche in eurem Land sein mögen,
in unserem Land besitzt sie jedenfalls die höchste Rechtsgewalt, und die berechtigt sie, diese Untersuchung durchzuführen.
Sie hat die volle Unterstützung durch die Gesetze dieses Königreiches. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
Es herrschte Schweigen.
»Ich fahre fort«, sagte Fidelma ruhig. »Und doch ist das, was Eadred gesagt hat, zum Teil wahr.«
|204| Eadred starrte sie an, und Verwirrung umschattete seine Augen.
»O ja«, meinte Fidelma lächelnd. »Zumindest
einer
von euch weiß, wie Wulfstan gestorben ist und wer dafür verantwortlich ist.«
Sie legte eine kleine Pause ein und ließ die Worte ihre Wirkung tun.
»Lasst mich zunächst erklären, wie er gestorben ist.«
»Er wurde in seinem Bett erstochen«, sagte Finan, der Rechtsprofessor.
»Das ist richtig«, stimmte ihm Fidelma zu, »aber es geschah ohne die Hilfe von Zauberei.«
»Wie sonst konnte ein Mörder in einen verriegelten Raum gelangen und ihn wieder verlassen, obwohl er noch immer von innen
verriegelt war?«, wollte Eadred wissen. »Wie, außer durch Zauberei?«
»Der Mörder wollte, dass wir es für Zauberei hielten. Er hat sich einen sehr komplizierten Plan ausgedacht, um uns zu verwirren
und die Schuld jemand anderem zuzuschieben. Der Plan war so komplex, dass er verschiedene Ebenen hatte. Eine der Ebenen war
schlicht und einfach, dass er uns verwirren und verängstigen wollte, weil wir dachten, der Mord sei von einer übernatürlichen
Kraft begangen worden. Die andere war, einen Hinweis auf einen offensichtlichen Verdächtigen zu hinterlassen, und die dritte
war, eine andere Person zu bezichtigen.«
»Nun«, meinte Laisran, »im Augenblick durchschaue ich nicht einmal die erste Absicht.«
Schwester Fidelma warf dem rundlichen Abt ein flüchtiges Lächeln zu.
»Die hebe ich mir für später auf. Wir wollen zunächst die Todesart betrachten.«
Nun hatte sie die ungeteilte Aufmerksamkeit aller.
|205| »Der Mörder betrat den Raum durch die Tür. Wulfstan hat seinen Mörder selbst in die Schlafkammer eingelassen.«
Der ungewöhnlich schweigsame Dagobert holte laut und vernehmlich Luft.
Ungerührt sprach Fidelma weiter.
»Wulfstan kannte seinen Mörder. Ja, er hegte keinerlei Verdacht, fürchtete diesen Mann nicht.«
Abt Laisran betrachtete sie mit vor Erstaunen offenem Mund.
»Wulfstan ließ den Mörder in die Kammer«, fuhr sie fort. »Der Mörder schlug zu. Er tötete
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