Der falsche Apostel
Sie war ein einsamer Wanderer inmitten eines Schwarms kleiner, wendiger Sturmschwalben mit schwärzlichem Gefieder und weißem
Bürzel und großer dunkel gefärbter Kormorane; sie alle kreisten, tauchten, flatterten und hoben sich gegen den sanftblauen
Maihimmel ab.
Schwester Fidelma saß entspannt im Heck des Boots und ließ den Tanggeruch des hoch sprühenden Salzwassers sacht ihre Sinne
streicheln. Ihr gegenüber saßen die beiden Ruderer, die sich rhythmisch vor- und zurückbeugten. Dank ihrer gleichmäßigen Schläge
glitt das leichte, mit Tierhäuten bespannte Flechtwerkboot sanft über die Wellen der weiten Bucht, die sich verräterisch ruhig
gab. Selten verhielten sich die raubgierigen Wogen des hungrigen Atlantik so friedlich wie jetzt, denn oftmals waren die Inseln,
zwischen denen das Boot sich seinen Weg bahnte, für Wochen, ja Monate vom Festland abgeschnitten.
Sie hatten von der felsigen, kärglich begrünten Küste abgelegt, um den breiten Meeresarm an der Südwestküste Irlands, der
Roaringwater Bay hieß, zu überqueren. Es war das Gebiet mit den sagenumwobenen »Hundert Inseln«, die wie von der Hand eines
Riesen ins Meer geschleuderte Erdklumpen und |215| Felsbrocken das Bild prägten. Der Tag war mild, das Wasser träge, die Sonne wärmte bereits und beschien eine Szenerie friedvoller
Schönheit. Während die Ruderer das Gefährt durch die zahlreichen Inselchen lenkten, tauchten neugierige Seehunde auf, schauten
kurz auf die Eindringlinge in ihre Wasserwelt und schossen davon.
Schwester Fidelma war nicht allein unterwegs. Eine Novizin begleitete sie. Das junge, verängstigte Mädchen kauerte neben ihr
auf dem Heckbrett des Fischerboots. Fidelma hatte sich verpflichtet gefühlt, die Novizin auf der Fahrt zur Abtei Sankt Ciaran
von Saigher unter ihre Fittiche zu nehmen. Die Abtei war auf der Insel Chléire, dem weit draußen gelegenen Vorposten der Inselgruppe,
errichtet worden. Es hatte sich rein zufällig ergeben, denn Fidelmas eigentliches Vorhaben bestand darin, Briefe von Ultan,
dem Erzbischof von Armagh, an den Abt von Chléire und auch an den Prior von Inis Chloichreán zu überbringen. Auf dem letztgenannten,
von den anderen Inseln abgesonderten Felseneiland war eine winzige Klostersiedlung entstanden.
Der Schlagmann, den sein Leben an der rauen Küste hatte vor der Zeit altern lassen, machte eine Pause und verzog die Lippen
zu einem freundlichen Grinsen, bei dem sein lückenhaftes Gebiss sichtbar wurde. Bewundernd schaute er mit seinen tiefliegenden,
meergrünen Augen in dem braunen, wie Leder gegerbten Gesicht auf die schlanke und ranke junge Frau mit dem roten Haar. Selten
hatte er eine Klosterschwester gesehen, die sich mit so fraulicher Sicherheit hielt wie diese, und schon gar keine, die so
selbstverständlich die Führung übernahm.
»Dort drüben zu unserer Rechten liegt Inis Chloichreán, Schwester.« Er wies mit seiner knotigen Hand in die Richtung, merkte
aber sofort, dass die Insel zu ihrer Linken lag, weil er ihr gegenüber saß. »Bis dorthin brauchen wir eine Viertelstunde. |216| Möchtest du, dass wir da an Land gehen, oder willst du, dass wir zuerst Chléire anlaufen?«
»Auf Chloichreán halte ich mich nicht lange auf«, erwiderte Fidelma. »Legen wir zuerst dort an, wenn es ohnehin auf unserem
Weg liegt.«
Der Ruderer brummte sein Einverständnis und nickte seinem Partner zu. Wie auf ein geheimes Kommando tauchten sie gleichzeitig
ihre Ruder ein, und das Boot flog über die Wellen auf die Insel zu. Deren felsige Oberfläche war bergig. Von See aus gewann
man den Eindruck, die Ufer bestünden nur aus unzugänglichen Klippen. Lichtnelken und Geißblatt, die sich auf Vorsprüngen hielten,
verliehen dem grauen Granit Farbtupfer.
Lorcán, der Schlagmann, manövrierte das Boot geschickt durch die vor der Küste aufragenden Felsnadeln. Gischt zischte und
gurgelte um die Granitzacken, an denen sich kleine, aber gefährliche Strudel bildeten. Bedenklich tanzte das leichte Gefährt
hin und her. Doch dem erfahrenen Ruderer gelang es, sich auf einem Zickzackkurs zu einer winzigen geschützten Bucht durchzuschlagen,
die einen Naturhafen bildete.
Fidelma bewunderte sein Geschick. »Nur jemand, der sich hier auskennt, kann so eine Stelle ansteuern.«
Lorcán quittierte ihr Lob mit zufriedenem Lachen. »Ich bin einer von den wenigen, die genau wissen, wo man bei dieser Insel
anlanden kann.«
»Unter den frommen Brüdern der
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