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Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition)

Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition)

Titel: Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Merten
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Versicherungen verspürte und die nun schon seit Wochen an ihm nagten, waren inzwischen unerträglich geworden. Da bescherte ihm das Glück neue Zuversicht. Am Rande der einzigen Lichtung im Spahnwald, der Trollwiese, fand er einen jungen, ausgehungerten Hund. Kwin nahm sich seiner an, pflegte ihn gesund und nannte ihn Twist. Mit dem Erscheinen des Hundes endete für Kwin die Einsamkeit der langen Nächte. Zum ersten Mal seit Wochen sprach er zu jemand anderem als sich selbst. Mit Twist an seiner Seite kehrte die Fröhlichkeit in sein junges Herz zurück. Vergessen waren Zweifel und Sorgen der vergangenen Wochen und die Bewältigung der gestellten Aufgabe verlor ihre Dringlichkeit. Es war, als wehte ein frischer Wind durch sein Gemüt.
    Twist war ein Mischling von dunkelgrauer Farbe. Sein Fellhaar war fingerlang und borstig. Als Kwin ihn fand, reichte der junge Hund ihm fast bis zu den Knien. Und er sollte noch größer werden. Ganz unverwechselbar hatte Twist etwas von einem Wolf. Die gelblich schimmernden Augen, die lange Schnauze und das zottige, dichte Fell wiesen deutlich darauf hin. Doch so sehr Kwin sich auch mühte, seine eindringlichen Blicke in Twists unergründliche gelbe Augen brachten keine Antworten über seine Herkunft ans Tageslicht.
    Kwin unternahm mit Twist lange Streifzüge durch den Spahnwald. Wenn die Nacht hereinbrach, bevor sie ihr Lager bei der alten Eiche erreichten, schliefen sie, wo sie waren. Auf einer ihrer Wanderungen stießen sie auf einen der seltenen Ahornbäume im Herzen des Spahnwaldes, ein uralter Silberahorn. Kwin betrachtete den Baum mit stiller Freude. Es gab nicht mehr viele dieser Bäume im Flachen Land und ausgerechnet hier, inmitten des Spahnwaldes auf einen zu stoßen, betrachte Kwin als ungeahntes Glück, und er beschloss, an dieser Stelle eine Zeitlang zu verweilen. Aus einem dünnen Kiefernast schnitzte er sich eine kleine Flöte. Als er fertig war, musterte er sie kritisch. Die Flöte war uneben und besaß nur drei Löcher, die versetzt über den Flötenkörper verliefen. Doch wenn Kwin darauf spielte, vergingen seine Sorgen und die Einsamkeit.
    Als die kürzer werdenden Tage den Herbst ankündigten, machten sich Kwin und Twist auf den Rückweg zu ihrer Eiche. Er hatte viel gelernt, seit er den Wald betreten hatte, aber die Bäume blieben ihm nach wie vor verschlossen. Obwohl Twist ihm ein treuer Freund geworden war, den er um nichts in der Welt hätte missen wollen, sehnte er sich doch zurück zu den Menschen. Es zog ihn nach Hause, ins Flache Land und nach Bitterquell. Er vermisste seine Eltern und seine Freunde, Herr und Frau Borken, Alep und Oma Elders, ja selbst der stets mürrische Handemann fehlte ihm ein bisschen. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber er hatte aufgegeben, den Zugang zu den Bäumen und ihrer Sprache zu finden. Die wenigen Tage bis zum Pflückfest wollte er noch im Spahnwald bleiben und dann nach Bitterquell zurückkehren.
     
    Früh am nächsten Morgen fing es an zu regnen. Kwin lehnte mit dem Rücken an der alten Eiche. Das gelichtete Blätterdach fing den größten Teil des Regens auf. Nur vereinzelt fielen Tropfen herab und platschten auf den feuchten Waldboden. Im Wald war es ungemütlich geworden. Twist lag mit geschlossenen Augen da. Die lange Schnauze auf den Vorderpfoten ruhend ließ er sich von Kwin das Nackenfell kraulen.
    Am Ende der kommenden Woche wurde im Flachen Land das Pflückfest gefeiert und er stand noch immer am Anfang. Trotz all seiner Versuche, trotz seiner verbissenen Beharrlichkeit und seiner schier unermüdlichen Ausdauer war Kwin jeder Erfolg verwehrt geblieben. So blieb ihm nichts anderes, als Abschied zu nehmen vom Spahnwald und seinen Bäumen.
    Kwin schloss die Augen und entspannte sich. Er ließ seine Gedanken durchs Flache Land wandern. Er sah den Eldershof und Aleps Großmutter in ihrer Kräuterküche, die Sandhöhlen der Steinholzberge, den Bitterfluss und die alte Kastanie am Rathaus von Bitterquell. Handemann, den Schmied, Bürgermeister Wundel, Polz den Sattler, Meister Borken und seine Werkstatt und gerade, als er sich fragte, was nun werden sollte, tauchten fremde Bilder vor ihm auf. Visionen, so mächtig und schwer, dass er stöhnend zusammensackte. Die Eiche sprach. Er spürte es. Dort, wo sein Rücken den Baum berührte, vibrierte die alte, zähe Rinde. In seinem Geist entstanden Bilder, die viele Lebensspannen alt waren. Er sah Bäume, ja ganze Wälder entstehen und wieder vergehen. Er sah Menschen

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