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Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition)

Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition)

Titel: Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Merten
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mit riesigen Äxten umherziehen und Bäume für Häuser und Werkzeuge, Möbel und Feuer fällen. Männer und Frauen die bei der Arbeit sangen und schwitzten. Sie fällten wahllos. Er sah große Feuer ganze Landschaften vernichten und mit ihnen Bäume, Sträucher und Wälder untergehen. Und immer fühlte er die Ohnmacht der Bäume. Aber er spürte auch ihre Kraft und den Willen zu überstehen. Dann änderten sich die Bilder. Erst langsam, aber dann immer deutlicher, fanden Menschen und Bäume zu einem von gegenseitigem Respekt geprägten Miteinander. Einzelne Bäume gaben ihr Leben, damit andere unbeschadet blieben. Und sie schenkten den Menschen ihre Magie. Mensch und Wald lebten im Gleichklang.
    Wieder änderte sich das Bild und die Menschen kehrten zu ihren früheren Vorstellungen und Handlungsweisen zurück. Die Zeit des Gleichklangs zwischen Mensch und Wald fand allmählich ihr Ende. Nur noch wenige waren bereit, das Leben von Baum und Strauch und Kraut ebenso hoch zu achten wie das eigene. Kwin sah Hexen, Magier, Tischler, Barden, Jäger und einen alten Mann, der die Wälder beschützte. Bei diesem Bild einer einzigen Person regte sich tief in Kwin ein Gefühl der Verwirrung. Zwar hatte er schon vom grünen Mann gehört, dem Wanderer der Wälder, aber er war Teil einer Legende, ein Märchen, das man Kindern erzählte.
    Damit endete die Berührung des Baumes und Kwin kam langsam wieder zu sich. Lange saß er noch mit geschlossenen Augen da und versuchte, die Erinnerung des Baumes, die nun auch seine war, wirken zu lassen. Die Eiche hatte ihm für einen kurzen Augenblick ihre Erinnerung gegeben, hatte mit ihm geteilt, was sie war, was alle Bäume waren. Kwin hatte die Angst des Spahnwaldes vor den Menschen und dem Feuer gespürt. Hatte teilgenommen am Austausch zwischen Mensch und Baum. Was ihn aber am stärksten beeindruckt hatte, war die freiwillige Hingabe der Bäume, die sich bereitwillig fällen ließen. Sie gingen, um anderen das Leben zu erhalten. Aber sie starben nicht. Ihre Kraft, ihre Magie und ihre Erinnerung lebten weiter in den Werkstücken, zu denen sie geformt wurden; dauerhafter, als sie es in ihrer ursprünglichen Form vermocht hätten.
    So viele unterschiedliche Gefühle und fremde Erinnerungen hatte die Eiche in Kwin wachgerufen, dass er sich sehr müde und alt fühlte. Er hatte die unerträglichen Schmerzen einer gefällten Buche gespürt. Er hatte sich gewunden, als scharfe Äxte und Beile die Zweige und Äste abhackten. Aber er hatte auch die formenden Hände gespürt, die aus dem Holz des Baumes etwas Neues und Einzigartiges schufen. Die Seele des Baumes, die Magie, der Geist oder wie immer man es nennen wollte, fand sich wieder in der neuen Gestalt, die sie erhalten hatte.
    Als die Nacht hereinbrach, erhob Kwin sich schwerfällig und wanderte gemeinsam mit Twist bis weit nach Mitternacht durch den dunklen Wald. Er lehnte sich an viele Bäume, drückte seine Stirn gegen Buchen und Fichten. Legte seine geöffneten Hände sanft um Eichen, Eschen und Kiefern. Und jeder einzelne Baum hatte seine eigene Geschichte zu erzählen. Anfangs tat sich Kwin sehr schwer, ausschließlich in Bildern zu sprechen und zu denken, ohne die Unterstützung von Worten und Gesten. Aber er lernte schnell.
    Obwohl er seine Aufgabe nun erfüllt hatte, verließ er den Wald nicht. Im Gegenteil, er verabschiedete sich dankbar von der alten Eiche, und verlegte seinen Schlafplatz in die Äste des kräftigen Ahorns, im Herzen des Spahnwaldes. Tief sog er den würzigen Geruch der Rinde ein, als er sich Ast um Ast in den Baum emporzog. Die raue Rinde lag hart und rissig unter seinen fest zupackenden Händen. Andere Gerüche waren hier oben. Die herbe Frische des Harzes und der schwere Duft, der vom regengetränkten Holz aufstieg. Ein geruhsamer Wind wehte durch Äste und Zweige und Blätter und erzeugte ein feines Rascheln und ein beständiges, allgegenwärtiges Rauschen. Kwin erschien es wie eine lebendig gewordene Musik.
    Inzwischen hatte der Herbst den Sommer gänzlich vertrieben und die Blätter des Waldes färbten sich bunt. Zum Sommeranfang hatte er sich von seinem Meister verabschiedet und nun war ihm der Wald zu seiner zweiten Heimat geworden. Kwin spürte, dass die Zeit der Heimkehr für ihn noch nicht gekommen war. Zu viel gab es noch zu erfahren und zu verstehen.
    Schon nach kurzer Zeit hatte Kwin verwundert festgestellt, dass der Ahorn in einem seltsamen Dämmerzustand lag, irgendwo zwischen Leben und Tod, und so

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