Der falsche Engel
schmutzig und nahrhaft wie der Inhalt
eines Schweinetrogs. Nur die Dümmsten und Schwächsten standen bei der allgemeinen Geldorgie abseits. Die Geheimdienstler stürzten
sich mit Lust auf den Trog.
Nebeneinnahmequellen sind der Tod jedes Geheimdienstes. Er arbeitet zwar noch, aber völlig anders.
Oberst Raiski hatte lange nach einer Antwort auf die Frage gesucht, warum der Terrorist Schamil Ismailow noch immer frei herumlief.
Warum wurde er gejagt und gejagt und doch nie gefasst? Die Antwort lautete kurz und bündig: Weil alle korrupt waren und man
niemandem trauen konnte.
Es gab einen direkten Zusammenhang zwischen dem Informationsabfluss aus den Geheimdienststrukturen und der Summe an nichtstaatlichen
Geldern, die deren Mitarbeiter erhielten. Wo genau die undichten Stellen waren, ließ sich schwer feststellen. Der einzige
Ausweg hieß also strikte, hermetische Geheimhaltung, auch gegenüber den eigenen Leuten. Vor allem gegenüber den eigenen Leuten.
Doch je teurer eine Operation, desto schwerer ließ sich die Geheimhaltung realisieren. Aber billig war Ismailow nicht zu haben.
Raiskis Vorgesetzter wusste, dass der Oberst den Schutz und die Bewachung des einzigen Sohns von General Gerassimow übernommen
hatte. Das war richtig. Man musste seine Leute schützen. Einem verdienten Veteranen zu helfen, der vierzig Jahre bei den Sicherheitsorganen
gearbeitet hatte, war Ehrensache, umso mehr, wenn dieser Veteran Vorstandschef einer großen Bank war und aus eigener Tasche
zahlte.
Dennoch nagten Zweifel an Raiski. Er besaß keinen direkten Beweis dafür, dass Angela tatsächlich von Ismailow zusammengeschlagen
worden war. Und selbst wenn es so war, musste das nicht bedeuten, dass Stas Gerassimow etwas damit zu tun hatte. Angela und
Schamil konnten genug eigene Probleme haben. Die Miliz hatte den Fall sofort übernommen und nach den drei Tätern gesucht,
die Angela angeblich in der Nacht auf ihrem Hof überfallen hatten. Es gab keinen einzigen Zeugen. Die Sängerin beharrte auf
ihrer Version und bestritt ihre Bekanntschaft mit Ismailow kategorisch.
Einen Monat nach dem Überfall lag Angela im Institut für Kiefer- und Gesichtschirurgie. Sie wurde nach dem niedrigsten Tarif
behandelt, denn sie hatte kein Geld.
»Ich habe alles ausgegeben, ich besitze keinerlei Ersparnisse«, hatte sie dem Ermittler gestanden. »Mein Lebensstil ist sehr
kostspielig.«
Einen Monat darauf hatte sie plötzlich Geld. Ihr Produzent teilte mit, mehrere ausländische Firmen hätten ihr beträchtliche
Summen für verkaufte CDs überwiesen. Angela wandte sich an verschiedene plastische Chirurgen, doch die lehnten eine Behandlung
ab. Sie war zu berühmt, die Ärzte fürchteten im Falle eines Misserfolgs um ihren Ruf, und die Aussicht auf Erfolg war gering.
Die Sängerin wurde ständig überwacht, und Doktor Tichorezkaja, die schließlich einwilligte, sie zu operieren, geriet automatisch
in Raiskis Blickfeld. Umgehend wurde ihr Telefon abgehört. Gleich in der ersten Nacht kam ein interessanter Anruf.
Der Oberst hörte sich die Aufzeichnung an die zehnmal an und traute seinen Ohren nicht. Er gab ein Gutachten in Auftrag –
es bestätigte, dass Doktor Tichorezkaja um halb vier morgens von Schamil Ismailow höchstpersönlich angerufen worden war. Woher
der Anruf kam, ließ sich nicht feststellen, trotzdem hätte Raiski vor Freude am liebsten jubiliert.
Er holte rasch alle nötigen Informationen über Doktor Tichorezkaja ein und beschloss, sie in sein Spiel einzubeziehen.
Als er Julia gegenüber behauptete, er habe zur Zeit keinen plastischen Chirurgen zur Verfügung, sagte er die Unwahrheit. Natürlich
verfügte der Geheimdienst über plastische Chirurgen, und sie waren keineswegs schlecht. Aber Raiski wollte lieber einen Außenstehenden,
weil er den eigenen Leuten nicht mehr vertraute.
Julia konnte auf keinen Fall mit Ismailows Leuten in Verbindung stehen. Sie blieb außerhalb des Systems und war nur an ihrer
eigenen Sicherheit interessiert.
Von ihr waren also keine unangenehmen Überraschungen zu erwarten. Im Gegenteil. Nach Ismailows nächtlichem Anruf hatte Raiski
das Gefühl, dass Doktor Tichorezkaja ihm Glück bringen würde.
Von Julias Auto aus hatte Angela zweimal per Handy mit Ismailow telefoniert. Von dem ersten Anruf hatte der Oberst von der
Ärztin selbst erfahren.
»Ich glaube, sie hat mit dem Mann gesprochen, der sie verprügelt hat. Sie sind ziemlich intim miteinander. Sie
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