Der falsche Engel
stellte seine Tasse ab und sagte, nach wie vor lächelnd:
»Ich bitte noch einmal um Entschuldigung für die Belästigung. Ich bin Reporter einer Musikzeitschrift für junge Leute, hier
ist mein Ausweis.« Er zog eine bunte Plastikkarte aus der Jackentasche, aber Julia sah gar nicht hin.
»Setzen Sie sich bitte an einen anderen Tisch«, sagte sie so hart sie konnte.
»Aber warum denn? Erklären Sie mir wenigstens, warum?« Seine Stimme klang plötzlich ein wenig seltsam, irgendwieklagend, bettelnd, und Julia glaubte einen leichten kaukasischen Akzent wahrzunehmen.
»Ich möchte nicht mit Ihnen sprechen. Ich will nicht, und Schluss.« Sie drückte die Zigarette aus, stand auf und sah Schura
mit einem beladenen Tablett auf sich zukommen.
»Wo willst du hin, Mama?«
»An einen anderen Tisch.« Julia fing geschickt ein Glas ab, das beinahe vom Tablett gefallen wäre, und drehte sich zu dem
jungen Mann um.
»Wenn Sie mich nicht in Ruhe lassen, rufe ich den Sicherheitsdienst.«
»Was habe ich Ihnen denn getan? Ich wollte Ihnen nur ein paar Fragen stellen. Sie haben die Sängerin Angela operiert, und
sie ist ein Star, also interessieren sich unsere Leser dafür – warum kann man nicht ganz normal darüber reden?«
Er war aufgestanden und kam direkt auf sie zu.
Schura stellte das Tablett ab, sagte leise: »Ich bin gleich wieder da, Mama!« und verschwand.
»Ich habe gesagt, Sie sollen gehen!«, wiederholte Julia und wich zurück zur Wand. Doch er kam immer näher, nun schweigend.
Julia konnte nur hilflos auf einen Stuhl sinken. Sie fühlte sich vollkommen zerschlagen. Sie hatte Angst vor diesem Rotzlöffel
und war sich selbst zuwider.
»Da ist er!«, ertönte ganz in der Nähe Schuras laute Stimme. »Alles in Ordnung, Mama?«
Hinter ihr standen zwei Männer in der schwarzen Uniform des Sicherheitsdienstes. Bevor der junge Mann verschwand, flüsterte
er Julia laut und deutlich ins Gesicht: »Miststück!«
Die Sicherheitsleute rannten ihm nach, doch er war in der Menge untergetaucht.
»Tja, Mama, das ist die Last des Ruhms«, sagte Schura und nagte an einem Hühnerflügel. »Iss, das wird doch kalt.« Sie schob
Julia den Teller hin. »So ein unverschämter Kerl!Du willst nicht mit ihm reden, und er lässt nicht locker! Ob er dir schon lange gefolgt ist? Oder hat er dich nur zufällig
entdeckt und erkannt?«
»Wie soll er mich erkannt haben?« Julia nahm sich eine Zigarette. »Woher kannte er meinen Namen?«
»Na, dein Name wandert durch die Klatschpresse, das ist also kein Wunder. Ob auch Fotos, weiß ich nicht. Kann man im Internet
nachsehen. Ehrlich gesagt, nach dem, was die Mädchen aus meiner Klasse erzählt haben, habe ich das erwartet. Angela ist wirklich
echt berühmt, und dann passiert ihr so was, und du bist die Ärztin, die ihr die verlorene Schönheit zurückgibt. Alle denken,
dir als ihrem Doktor hat sie vielleicht das Geheimnis ihrer Tragödie anvertraut. Wenn wir im Westen lebten, würdest du hinterher
ein Buch darüber schreiben und eine Million Dollar dafür kriegen. Du hast die Welt der Stars berührt und bist selber ein Star
geworden.«
»Nur mit dem Skalpell«, murmelte Julia ganz leise, »und dem Laserstrahl.«
»Was?« Schura legte den angenagten Flügel beiseite. »Phantasierst du jetzt, Mama? Ist das der Schock nach der Begegnung mit
der Regenbogenpresse?«
»Die Welt der Stars habe ich nur mit dem Skalpell und dem Laserstrahl berührt.« Julia nahm einen letzten Zug, drückte die
Zigarette aus und begann zu essen.
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Das Grab war so ungepflegt, dass Sergej erst einmal zu den Friedhofswärtern ging, um einen Besen und einen Sack bat und das
vermoderte Vorjahreslaub beseitigte. Jedes Frühjahr war er etwa um diese Zeit mit seiner Mutter hergekommen und hatte das
Gleiche getan – natürlich nur, wenner in Moskau war. Dann hatte Mutter Stiefmütterchen gepflanzt, Unkraut gezupft und den kleinen Marmorgrabstein mit dem ovalen
Bild des Vaters und der vergoldeten Inschrift »Alexander Loginow, 1936–1979« geputzt.
Nun befand sich neben dem Bild des Vaters das der Mutter, ebenfalls im ovalen Rahmen, und eine frische Inschrift »Vera Loginowa,
1940–1999«. Auf dem Foto war die Mutter ganz jung, jünger als der Vater.
Er war irgendwo in Afrika gefallen, vielleicht in Sambia. Das genaue Datum und den Ort seines Todes hatte die Mutter nie erfahren.
Im Juni 1977 war der Major der Abwehr Alexander Loginow zum
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