Der falsche Engel
ich es dir: Dieser Mann ist der Sekretär eines hohen Regierungsbeamten. Der Beamte hat eine Frau,
die dringend eine plastische Operation brauchte. In eine Klinik wollte sie nicht, nicht einmal in unsere. Und ins Ausland
auch nicht.«
»Warum?«
»Na ja, sie hat mir gestanden, dass sie ihren Mann ungern lange ohne Aufsicht lassen möchte. Also musste ich sie zu Hause
operieren. Sie haben ein Haus bei Moskau. Das war meine Dienstreise.«
»Echt krass!« Schura schüttelte den Kopf und schaute endlich nicht mehr in den Spiegel. »Aber für eine Operation braucht man
doch eine Menge Ausrüstung.«
»Wurde alles hingebracht« – Julia lachte schief –, »und zwar das allerbeste, so was haben wir nicht mal in unserer Klinik.«
»Wie alt ist denn diese Beamtenfrau?«
»Fünfundfünfzig.«
»Und was hast du bei ihr gemacht?«
»Ein ganz normales Lifting, Augenlidkorrekturen. Nichts Besonderes.«
»Was haben sie für ein Haus? Haben Sie Kinder?«
Auf der restlichen Fahrt erzählte Julia vom Leben des Beamtenehepaares, von Whirlpools mit goldenen Wasserhähnen, von Dienstmädchen
in weißen Schürzen, von Tennis und Golf, von Kindern und zwei edlen afghanischen Windhunden. Als sie den riesigen Parkplatz
vor dem Einkaufszentrum erreichten, beschrieb Julia gerade das Abschiedsessen am Kamin, mit französischem Weißwein Chateau
la Louviere und mit Rebhühnern, die der Hausherr selbst geschossen hatte.
Im Einkaufszentrum zog Schura sie schnurstracks zu einem Laden, in dem es die Turnschuhe gab, probierte bedächtig sämtliche
Modelle an, entschied sich schließlich fürein Paar, zog es gleich an und verlangte erregt und überglücklich, nun müssten sie etwas für Julia kaufen, sonst wäre es ungerecht.
»Ach, ich weiß nicht«, stöhnte Julia, »ich finde nie was für mich.«
»Das ist das Unglück deiner Jeansgeneration«, erklärte Schura und führte sie in eine sündhaft teure Boutique, »du bist mit
zwölf in Jeans gestiegen und kommst da bis heute nicht raus.«
»Aber ich trage schon lange keine Jeans mehr. Nur zu Hause und im Urlaub«, widersprach Julia schwach und sah zu, wie ihre
Tochter ohne Zögern gleich mehrere Hosen und Röcke von einem Kleiderständer nahm.
»So, probier das hier mal an, ich seh mich solange nach einem Oberteil um.«
Julia musste eine Dreiviertelstunde in der Kabine bleiben. Schura brachte immer wieder Neues, musterte ihre Mutter kritisch,
ließ sie ein Kleidungsstück nach dem anderen anprobieren. Schließlich fiel die Wahl auf eine milchkaffeebraune leichte weite
Wollhose, einen perfekt dazu passenden schokoladenbraunen Pullover mit weiten Maschen und ein Seidentuch, das die Verkäuferin
ihnen mit einem großzügigen Rabatt anbot und das beide Farben kombinierte.
»Na also, die Sachen sind doch toll, oder? Allein hättest du diese schicke Hose nie gekauft, du hättest sie nicht mal gefunden«,
erklärte Schura, als sie sich in einem kleinen Café in der oberen Etage des Einkaufszentrums an einen Tisch setzten.
»Stimmt, du bist ein Schatz.« Julia nickte und zündete sich eine Zigarette an. Schura ging zum Tresen, etwas zu essen holen.
Julia lehnte sich entspannt zurück und dachte, nun sei alles gut. Das Leben kehrte in seine normalen Bahnen zurück, sie musste
sich nicht mehr mit Oberst Raiskitreffen und ihr Kind belügen. Nun musste sie nur noch Sergej vergessen, ganz und gar vergessen, anstatt von einer Begegnung
ohne jeden Anlass zu phantasieren: Sie in der neuen Hose und dem neuen Pullover, und der Mann ohne Vergangenheit und ohne
Zukunft würde sie zärtlich ansehen.
»Entschuldigen Sie, ist hier noch frei?« Die Männerstimme ertönte so unverhofft, dass Julia zusammenzuckte. Direkt vor ihr
stand ein Bursche um die zwanzig, eine dampfende Kaffeetasse in der Hand.
»Besetzt«, sagte Julia und schaute sich um. Es waren genügend Tische frei.
»Ich bitte nochmals um Entschuldigung, Sie sind doch Julia Tichorezkaja?«
»Ja. Worum geht es?« Julia sah sich den Burschen genauer an. Er sah ganz normal aus. Schwarzes, kurzgeschnittenes Haar, ein
kleiner Schnurrbart, Brille in schmalem Rahmen. Ein sympathisches, kluges Gesicht. Sackartige Hose, abgeschabte Lederjacke.
»Darf ich mich setzen?«, fragte er mit einem offenen Lächeln.
»Sagen Sie mir erst, wer Sie sind.« Julia erwiderte sein Lächeln und rückte den Stuhl, auf den der höfliche junge Mann zielte,
an den Tisch. Doch er setzte sich unbeirrt auf einen anderen Stuhl,
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