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Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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das dich wärmt. Nur dann wirst du aushalten und nicht gebrochen
     werden.«
    So hatte man es ihnen an der KGB-Hochschule beigebracht. Der Student Gerassimow lernte, Vernehmungen zu führen und Antworten
     zu verweigern. Er lernte, schmerzhaft, aber ohne Spuren zu schlagen, und zwar so, dass der Vernommene nicht vor Schmerz ohnmächtig
     wurde, denn das bedeutete Zeitverlust.
    Ihr Dozent, ein zweiundfünfzigjähriger Oberst, ein kleiner grauer Mann mit Leninglatze, hatte noch kurz zuvor, unter Berija,
     als Untersuchungsführer gearbeitet. Ob er je wirklichen Schmerz am eigenen Leib erfahren hatte, wussten die Studenten nicht,
     doch dass er ein großer Spezialist für menschliches Leiden war, daran zweifelte niemand.
    Für seine Studenten blieb das alles zum Glück Theorie.
    Natalja weckte Nikolai, und der brach vorsichtig die Tür auf. Der General bat um seine Medizin, nahm gleich vier Kapseln und
     spülte sie mit Wasser hinunter. Er hatte noch genug Kraft, seine Frau zu überreden, nicht den Notarzt zu rufen, sondern bis
     zum Morgen zu warten. Nach den Kapseln schluckte er noch zwei starke Schlaftabletten und schlief ein.
    Natalja ging hinunter in die Bibliothek, holte ein medizinisches Lexikon aus dem Regal und blätterte mit zitternden Fingern
     so lange darin, bis sie den lateinischen Namen des Medikaments gefunden hatte, das Wladimir nahm und über das sie nichts wusste.
     Als sie erfahren hatte, dass es sich um ein starkes Schmerzmittel handelte, das bei Krebserkrankungen verordnet wird, weinte
     sie nicht. Sie blieb einfach bis zum Morgen im Schaukelstuhl in der Bibliothek sitzen, das schwere Lexikon auf dem Schoß.
     IhreAugen waren trocken und weit geöffnet. Gegen Morgen fiel sie in einen kurzen, ohnmachtähnlichen Schlaf, und als sie erwachte,
     rief sie einen griechischen Bekannten an, der sehr gut Russisch sprach, und bat ihn, den besten Krebsspezialisten der Insel
     zu ihnen zu bringen, so schnell wie möglich, egal, was es kostete.

Siebenundzwanzigstes Kapitel
    Das Eisentor schloss sich quietschend. Der Weg führte durch ein Wäldchen. Hinter den Birkenstämmen blinkte die rosa Morgensonne.
     Sergejs Körper fühlte sich nach der schlaflosen Nacht ein wenig fremd an. Der silbergraue Wagen bog auf die Chaussee nach
     Moskau ein. Sergej gab Gas. Bevor er sich endgültig in Stas Gerassimow verwandelte, musste er noch ein paar Stunden durch
     Moskau laufen, ein letztes Mal er selbst sein.
    Es kam ihm vor, als hätte er seine Heimatstadt zehn Jahre nicht gesehen. In Wirklichkeit waren es nur sieben Monate. Im November
     war er nach Grosny geflogen. Von November bis Februar war er davon überzeugt gewesen, dass er nie wieder nach Moskau zurückkehren
     würde. Jetzt war Anfang Mai. Er war zurückgekehrt. Das heißt – nein, nicht er. Ein anderer. Ein seltsames Wesen mit der Erfahrung
     eines Kommandeurs der Spezialtruppen der Abwehr und der Biographie eines Neugeborenen. Ein einsamer Mann, dessen Erinnerung
     so viel Schreckliches enthielt, dass er nichts mehr fürchtete. Auch deshalb, weil er allein war. Sollte er umkommen, würde
     niemand weinen.
    Gegen elf Uhr vormittags überquerte Sergej den Ring, tankte, trank einen dünnen Kaffee und aß ein Käsesandwich. Als er in
     dem winzigen Café saß, fiel ihm ein, dass er das Handy einschalten sollte. Doch er tat es nicht. StasGerassimow würde mit Anrufen bombardiert werden, und er müsste sofort in seine Rolle einsteigen. Stas hatte Dutzende Bekannte.
     Sergej hatte außer Oberst Raiski niemanden in dieser Stadt. Julia zählte nicht. Am besten, er vergaß sie. Der warme, pulsierende
     Klumpen unter seinen Rippen würde sich allmählich auflösen. Wenn er zu ihr ging, um die Narben entfernen zu lassen, wäre das
     innerliche Beben vorbei. Sie würden sich höflich für immer verabschieden.
    Raiski hatte ihm nicht gesagt, wo sich die Klinik für plastische Chirurgie befand, und ihm auch keine Telefonnummer gegeben.
    »Wozu? Wenn es so weit ist, teile ich Ihnen mit, wie Sie die Ärztin finden.«
    »Und wenn es Komplikationen gibt?«, hatte Sergej gestammelt und sich gefühlt wie ein Volltrottel.
    »Dann rufen Sie mich an.«
    Sie wussten beide sehr gut, dass es keine Komplikationen geben würde, und sollte Sergej über den Oberst Verbindung zu der
     Ärztin suchen, dann ausschließlich aus privaten Gründen.
    Schluss. Es reicht. Ich habe sie schon vergessen.
    Am Platz der drei Bahnhöfe geriet er in einen Stau und spürte einen durchdringenden Blick von

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