Der falsche Engel
Nikititsch jedes Frühjahr neu schräg einschlug, sodass sich eine gezahnte Einfassung ergab. Dabei trat er immer wieder zurück
und kontrollierte, ob es auch ordentlich aussah. Anstelle einer Blume stand in der Mitte der Rabatte ein dünner, kurzbeiniger
Lenin mit Goldbronzeanstrich – wie eine Schokoladenfigur in Goldpapier. Dahinter ein Taubenstall, ein halbdurchsichtiger Kubus,
weiß von Vogelkot und stets erfüllt von Flügelschlagen und kehligem Gurren.
Die Tauben hielt ein grummeliger dicker Opa mit Namen Wederko. Von März bis Oktober lieferte er sich mit dem Hausmeister wüste
Schimpfduelle. Die Tauben kackten auf Lenin, und der Hausmeister drohte, den Stall anzuzünden. Doch als Opa Wederko nach einem
Schlaganfall gelähmt war, streute der Hausmeister persönlich den Tauben Körner hin und kratzte den Vogelkot vom Volierengitter.
Der Hof war leer. Von Weitem drang der Lärm des Prospekts herein. Das Bild löste sich auf, und Sergej war allein mit einem
fremden Hof, einer fremden Welt. Er rauchte noch eine Zigarette und begriff gereizt, dass er nur die Zeit totschlug.
Man konnte nicht alles verlieren, ohne etwas zu gewinnen. Die Natur duldet keine Leere. Er hatte nun genug herumgesessen,
in alberne, unnütze Gefühle versunken. Er musste zurück zum Auto und in die Wohnung von Stas Gerassimow fahren.
Vor der Metro fiel ihm ein Werbeplakat auf. »Klinik für plastische Chirurgie«; ein Pfeil zeigte auf die Adresse. Daswar gleich hier um die Ecke, nur ein paar hundert Meter entfernt. In Moskau gab es Dutzende solcher Kliniken. Er begriff nicht
gleich, warum er wie angewurzelt dastand und das Plakat anstarrte, anstatt in die Metro abzutauchen.
Heiße Strahlen huschten über sein Gesicht.
»Meiden Sie direkte Sonnenstrahlung … In einem Monat entferne ich die Narben, in meiner Klinik, im Zentrum von Moskau, in
der Nähe der Metrostation ›Prospekt Mira‹.«
Das war ihre letzte Begegnung gewesen, ihr letztes Gespräch, und er war schrecklich aufgeregt gewesen, hatte krampfhaft überlegt,
wie er sie noch ein paar Minuten aufhalten konnte.
Vor dem Glasgebäude der Klinik befand sich ein Parkplatz. Er suchte nach dem weinroten Škoda, entdeckte ihn nicht und beruhigte
sich beinahe. Doch statt umzukehren und zur Metro zu gehen, lief er auf die Marmortreppe zu. Die Glastür schwang vor ihm auf.
Er stand in einem geräumigen Foyer. Links und rechts saßen Sicherheitsleute in Tarnanzügen. Sie ließen ihre Blicke flüchtig
über sein Gesicht huschen, bemerkten vermutlich die Narben und stellten keine Fragen.
Direkt gegenüber vom Eingang hing eine große Tafel. Dort standen die Namen der Ärzte mit Zimmernummern und Sprechstunden.
»Julia Tichorezkaja, Chirurgin, 32 …« Sie hatte täglich Sprechstunde, außer mittwochs. Und heute war ausgerechnet Mittwoch.
Das mit dem Konto auf Zypern weiß Schamil noch nicht, dachte Angela, die in der kalten, leeren Wanne saß und vor Kälte bibberte,
aber das ist nur eine Frage der Zeit. Früher oder später wird er es erfahren. Und dann? Wird er mir wieder das Gesicht zertrümmern,
diesmal endgültig? Aber dann liefere ich ihn aus. Ich mache ihn fertig, genau wie ermich. Wenn er mich für immer verstümmelt, will ich sowieso nicht mehr leben. Dann ist mir alles egal!
Die Haushälterin Mila seifte ihr vorsichtig den Rücken mit einem Schwamm ein und spülte ihn mit einem dünnen Duschstrahl ab,
bemüht, den Verband nicht nass zu machen.
»Ein bisschen heißer, es ist zu kalt«, meckerte Angela ärgerlich.
»Das geht nicht. Der Wasserdampf …«
»O mein Gott, ich hab das alles so satt! Gib mir das Handtuch.«
Mila wickelte sie sorgsam in ein Frotteetuch.
»Gleich wird dir warm.«
Aber selbst im Bett, unter zwei Decken, wurde Angela nicht warm. Je klarer sie sich an die Einzelheiten ihrer Gespräche mit
Doktor Tichorezkaja erinnerte, desto heftiger wurde sie von Schüttelfrost gepackt.
Ich Idiotin! Ich hab ihr praktisch alles erzählt. Wozu? Bei den Bullen hab ich mich so toll gehalten, beim Untersuchungsführer
und bei der Alten, die als Ärztin getarnt ins Krankenhaus kam. Und bei ihr hab ich mich gehenlassen wie die letzte Vollidiotin.
Was hat mich da bloß geritten? Als ob ich nicht wüsste, was für eine Intuition Schamil hat! Er riecht es auf tausend Kilometer,
wenn jemand etwas weiß, dass ihm gefährlich werden kann. Als er ganz zu Anfang früh um halb vier bei Julia anrief, war die
Drohung nicht an sie
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