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Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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der Seite. Neben ihm stand ein
     schäbiger alter Moskwitsch. Am Steuer saß ein alter Mann mit weißem Flaum auf der Glatze und einer billigen Brille mit gelbem
     Plastikgestell. Ein Bügel war mit einem schmutzigen Pflaster umwickelt. Der Alte musterte den Angeber in dem silbergrauen
     Schmuckstück so aufmerksam, dass Sergejs Wangen ganz heiß wurden und seine Narben anfingen zu jucken.
    Stimmt etwas nicht? Aber was, fragte Sergej den Alten in Gedanken. Passt meine Mütze vielleicht nicht zur Saison? Wirklich,
     wieso sitze ich im Mai mit einer Wildledermütze im Auto?
    Er nahm die Mütze ab und warf sie auf den Beifahrersitz. Doch der Blick des Alten blieb unverändert.
    Was ist denn jetzt noch? Hör mal, Opa, kennen wir uns vielleicht? Nein, ausgeschlossen. Solche Bekannten hat Gerassimow bestimmt
     nicht.
    Sergej nickte dem Alten lächelnd zu. Daraufhin kniff der die Lippen zusammen und hupte so ausdrucksvoll, als wäre sein Moskwitsch
     lebendig und hätte einen hysterischen Anfall.
    Ach, das ist nichts Persönliches, begriff Sergej. Es ist nur, weil ich reich bin, und er ist arm. Er war im Krieg und besitzt
     in seinem hohen Alter nur seinen klapprigen Moskwitsch. Er weiß, dass mein Schmuckstück an die zweihundert seiner Kriegsveteranenrenten
     kostet – das ist alles. Nichts Persönliches.
    Als der Stau sich aufgelöst hatte, suchte Sergej sich einen bewachten Parkplatz, stellte den Wagen ab und ging zu Fuß. Der
     Moskauer Maitag stürmte auf ihn ein wie eine gewaltige Ozeanwelle und riss ihn mit sich.
    In einem Musikladen vor der Metro lief eine CD. Eine rauhe Stimme brüllte über den ganzen Platz: »Ich hab schon viele umgebracht,
     so manchen hab ich kaltgemacht, so viele Seelen hingerafft!« Wie auf Kommando sah Sergej im Benzindunst das Gesicht von Hauptmann
     Gromow vor sich. Wassja war in der Gefangenschaft verrückt geworden, und dieses Lied war eine Art Symbol für seinen Irrsinn.
     Auch Wassja war in Moskau geboren, und er würde nie mehr zurückkehren. Seine Eltern lebten noch. Er hatte eine Frau, Olga,
     und zwei Söhne.
    Sergej hatte gehofft, in der Stadt, unter normalen Menschen, in den von Kindheit an vertrauten Gassen wieder richtig zu sich
     zu kommen. Aber das Gegenteil war der Fall. Statt ein wenig zu verschnaufen, lief er immer weiter und fürchtete sich, stehen
     zu bleiben.
    Das normale Stadtleben um ihn herum erschien ihm blasphemisch, wie Gelächter auf einer Beerdigung. Er spürte, dass er nun
     genauso böse dreinschaute wie der Opa mit den Ordensbändern im Auto. Gut, dass die dunkle Brille seine Augen verbarg.
    Die Menschen liefen geschäftig in Läden, saßen in Straßencafés, aßen, tranken, schwatzten, lasen Zeitung oder schlenderten
     ziellos herum. Er fragte sich: Sollen sie etwa Trauer tragen und von morgens bis abends heulen? Nein, das waren sie niemandem
     schuldig. Das war es ja gerade: Niemand schuldete irgendwem etwas.
    Die Stadt lebte ihr normales Leben, gab sich alle Mühe, eine echte europäische Metropole zu sein. Aber vergebens. Es war schmutzig.
     Es gab zu wenig Papierkörbe. Ein Papierkorb war ein wunderbarer Platz für eine Sprengladung – Päckchen reinwerfen und fertig.
     Keiner bemerkte etwas, niemandem fiel etwas auf.
    Sergej lief seit über drei Stunden ziellos durch die Stadt, ging immer wieder hinunter in die Metro, fuhr ein paar Stationen,
     stieg aufs Geratewohl aus, überquerte Plätze, bog in Gassen ein.
    Als er wieder einmal aus der Metro auftauchte und sich umsah, erstarrte er. Er stand auf dem Prospekt Mira. Im Viertel seiner
     Kindheit. Er kaufte sich eine Flasche Wasser und einen Hotdog und setzte sich endlich, in einen Hof in der Trifonow-Straße,
     gegenüber der Stelle, an der einmal sein Haus gestanden hatte. Nun war hier ein eingezäunter Parkplatz, dahinter erhob sich
     ein sechzehngeschossiger Wohnturm mit Loggien. Die Vorkriegshäuser, die den Hof umstanden, wirkten schöner als früher, verjüngt
     durch einen frischen Fassadenanstrich. Die Hauseingänge waren mit Stahltüren und Klingelanlagen versehen. Die Pappeln, die
     den Hof jeden Sommer in eine dicke Schicht Flaum gehüllt hatten, waren längst gefällt, die Stubben gerodet,der Platz asphaltiert. Es war praktisch nichts mehr da. Sergej versuchte, in Gedanken alles wieder so hinzustellen, wie es
     vor fünfundzwanzig Jahren ausgesehen hatte.
    Ein einstöckiges kleines Holzhaus aus rohen, altersgrauen Balken. Eine Rabatte, mit Ziegelsteinen eingefasst, die der Hausmeister
    

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