Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
Vom Netzwerk:
schmutzigen, obszönen Hintern zugewandt und den Rock gehoben wie eine Bordellhure. Sie
     verspottet mich, kreischt, alles sei sinnlos, ich würde bald krepieren,und der klägliche Rest meines Lebens würde aus einem Schlauch für die Exkremente und grässlichen, hoffnungslosen Schmerzen
     bestehen. Aber heute Nacht habe ich plötzlich begriffen: Diese reale Schlampe mit dem nackten Hintern ist nicht die einzige
     Wahrheit. Sie ist überhaupt nicht die Wahrheit. Es gibt noch etwas ganz anderes. Ich erinnerte mich, mit welchem Starrsinn
     du immer wieder gesagt hast, dass unser totes Kind lebt. Dieser Glaube ist das Einzige, dessen wir sicher sein können. Alles
     andere ist nur Larve. Natalja, ich bitte dich, wenn du die Kraft dazu aufbringst, glaube nicht, dass ich sterbe, dass ich
     tot sein werde. Wie damals vor sechsunddreißig Jahren bei Serjosha.«
    Natalja stand wortlos auf, trat an das halbrunde Fenster, zog die leichten Vorhänge auf und schaute eine Weile auf die schnurgerade
     Horizontlinie, die Meer und Himmel trennte.
    »Darum hättest du mich nicht bitten müssen, Wladimir«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.
    Wladimir schloss die Augen, drehte sich vorsichtig auf die rechte Seite, hustete dumpf und sagte: »Natalja, ich will ein bisschen
     schlafen, solange die Tabletten wirken.«
    Natalja schloss das Fenster, zog die Vorhänge zu, ging zurück zum Bett, setzte sich auf die Kante, berührte mit den Lippen
     Wladimirs Schläfe, stand schwerfällig auf und blieb noch eine Weile so stehen. Ihre Augen waren trocken. In der ganzen Zeit
     hatte sie nicht eine Träne vergossen.
    Als sie an der Tür war, rief der General ganz leise: »Natascha …«
    »Was ist, Wladimir?«
    »Ich liebe dich.«
    »Warum hast du mir das früher nie gesagt? Kein einziges Mal in siebenunddreißig Jahren.«
    »Weil ich dumm war.«
     
    Julia hörte die Wohnungstür klappen und rief, ohne sich vom Computer abzuwenden: »Zieh dich gleich um, du bist klatschnass!
     Es gießt in Strömen, und du hast keinen Schirm.«
    »Mama, sieh mich doch erst mal an«, antwortete Schura ärgerlich. »Überhaupt, du könntest mich ruhig richtig begrüßen!«
    »Schon gut, nicht böse sein.« Julia tastete unterm Tisch nach ihren Pantoffeln und ging in den Flur.
    Dort war es dunkel. Sie drückte auf den Schalter, aber das Licht ging nicht an.
    »Die Birne ist schon heute früh durchgebrannt«, verkündete Schura mürrisch, »und Ersatzbirnen haben wir natürlich nicht.«
     Sie setzte sich auf den Hocker und schnürte ihre neuen Skechers auf.
    »Du hättest unterwegs eine kaufen können«, bemerkte Julia.
    »Womit bist du bloß so beschäftigt, dass du dich nicht vom Computer lösen und mich nicht einmal richtig begrüßen kannst?«
    »Entschuldige, ich stecke mitten in der Arbeit. Ich schreibe an einem Artikel.«
    »Über Methoden zur nahtlosen Verbindung von Gewebe bei Hauttransplantationen?«
    »Nein, den habe ich schon geschrieben.« Julia lachte. »Übrigens, damit du Bescheid weißt, nahtlose Verbindungen gibt es nicht.
     Aber die Mikrochirurgie arbeitet mit ganz neuen Technologien und Materialien. Doch es freut mich, dass du meine Arbeit so
     aufmerksam verfolgst. So, und nun zieh dich um, sonst erkältest du dich. Und föhn dir die Haare.«
    »Mama, du bist ein durchgeknallter Workaholic!«, rief Schura. »Du gehörst in Behandlung – wenn du arbeitest, nimmst du nichts
     anderes wahr. Ich bin vollkommen trocken,und du sagst schon zum zweiten Mal, ich soll mich umziehen.«
    »Tatsächlich.« Julia strich ihr übers Haar. »Sag bloß, du hast dir einen neuen Schirm gekauft?«
    »He, erinnerst du dich an gar nichts mehr? Echt, du gehörst in Behandlung!«
    »Woran soll ich mich erinnern?«
    »Hast du vergessen, dass du mir einen Wagen in die Schule geschickt hast?«
    »Was für einen Wagen?« Julia drehte sich abrupt um und starrte ihre Tochter an. »Ich habe niemanden zu dir geschickt.«
    »Bist du absolut sicher?«
    »Absolut!« Julia nickte. »Ich mag ja wirklich verrückt sein, aber doch nicht so. Was war das für ein Wagen?«
    »Ein dunkelblauer Ford. Der Chauffeur war Kaukasier«, flüsterte Schura erschrocken. »Er hat nach der sechsten Stunde mit einem
     Schirm direkt am Tor auf mich gewartet. Er hat mich begrüßt, mich mit meinem Namen angesprochen …«
    »Und du bist in diesen Ford gestiegen?«
    »Wieso denn nicht? Du hast mir auch früher schon manchmal ein Taxi geschickt, weißt du noch, im Januar, als es so kalt war?«
    »Komm, wir

Weitere Kostenlose Bücher