Der falsche Engel
Kerkura gibt
es eine ausgezeichnete Klinik.«
»Wozu?«
Der Grieche zog die pechschwarzen Brauen zusammen und öffnete den obersten Knopf seines schneeweißen Hemdes.
»Das ist nicht teurer als in Russland.«
Sie sprachen englisch, leise und schnell. Natalja verstand nichts und blickte angespannt von einem zum anderen. Beim Wort
»cancer« zuckte sie zusammen.
»Es geht nicht ums Geld.« Der General lächelte herablassend. »Ich kenne meine Diagnose und möchte keinen einzigen Tag in einer
Klinik verbringen.«
»Warum?«
»Weil ich nicht mehr lange zu leben habe.«
»Ohne medizinische Hilfe noch weit weniger.«
»Egal, wie viel mir noch bleibt, ob ein Jahr oder ein halbes, ich will diese Zeit ohne Chemie, Bestrahlungen, Hormone und
Schlauch im Bauch verbringen.«
»Ein Monat.« Der Grieche hob den Zeigefinger, an dem ein Ring steckte. »Ein Monat.«
»Ach so?« Der General zuckte mit den buschigen Brauen. »In Russland hat man mir mehr versprochen.«
»Wenn Sie sich behandeln ließen wie jeder normale Mensch in Ihrer Situation, würde ich Ihnen auch mehr versprechen. Aber Sie
weigern sich ja. Und ich halte es für meine Pflicht, Ihnen die Wahrheit zu sagen.«
»Danke.« Der General lachte bitter.
»Bitte.« Der Arzt nickte. »Trotzdem rate ich Ihnen, noch einmal gründlich zu überlegen.«
»Ich habe zwei Bitten an Sie. Erzählen Sie meiner Frau nicht, wie schlimm es steht.«
»Sie wird kaum glauben, dass Sie bloß eine Gastritis oder ein Magengeschwür haben. Immerhin hat sie darum gebeten, einen Krebsspezialisten
zu holen.«
»Sagen Sie ihr, ohne Untersuchung könnten Sie keine Diagnose stellen, erzählen Sie ihr, was Sie wollen, aber erschrecken Sie
sie nicht.«
»Gut. Und die zweite Bitte?«
»Schmerzmittel. Die allerstärksten.«
»Guten Tag, Stanislaw!«, rief der Sicherheitsmann laut.
Sergej beglückwünschte sich im Stillen. Zum ersten Mal hatte ihn jemand mit seinem neuen Namen angesprochen. Der Bursche im
Tarnanzug lächelte ihm aus seinem Kabuff zu wie einem alten Bekannten.
»Hallo.« Sergej nickte.
Der Eingangsbereich war mit Marmor ausgelegt und erinnerte an das Foyer eines teuren Hotels. Sergej ging zum Lift und spielte
dabei lässig mit dem Schlüsselbund.
Die Haustür klappte.
»Guten Tag, Stanislaw«, sagte eine heisere, hochmütige Frauenstimme hinter ihm.
Sergej drehte sich um und grüßte zurück. Die hochgewachsene Dame um die fünfzig lächelte im Gegensatz zu dem Wachmann nicht,
sondern sah an ihm vorbei. Neben ihr stand ein nachdenklicher afghanischer Barsoi.
Der Hund beschnüffelte Sergej, wedelte mit dem Schwanz, reckte ihm die Schnauze entgegen und stupste mit der nassen Nase gegen
seine Hand. Er streichelte den Hund mechanisch und tätschelte ihn hinterm Ohr. Zum Dank leckte der Barsoi ihm die Hand.
»Unglaublich!«, rief die Dame erstaunt und lächelte. »Ich traue meinen Augen nicht! Sie hatten doch immer Probleme mit Linda.
Was ist los mit Ihnen, Stanislaw? Ich hatte den Eindruck, Sie können Hunde nicht ausstehen!«
Der Lift kam. Im hellen Licht sah Sergej das Gesicht der Dame im Spiegel und erkannte sie – sie war eine renommierte Schauspielerin.
Der Barsoi Linda wedelte indessen noch immer mit dem Schwanz und stupste erneut mit der Nase gegen Sergejs Hand.
Die Dame zupfte ihr Haar zurecht, warf im Spiegel einen Blick auf Sergej und entdeckte die Narben.
»Ich habe gehört, Sie hatten einen Unfall?«
Sergej nickte. »Ja.«
»Und warum tragen Sie eine Brille? Haben Sie sich die Augen verletzt?«
»Ein wenig.«
»Na dann – gute Besserung. Alles Gute.« Die Schauspielerin stieg auf ihrer Etage aus, und Sergej atmete erleichtert auf. Bevor
er seine Wohnungstür aufschloss, untersuchte er mit Lupe und Taschenlampe gründlich Türgriff und Schlösser und hob vorsichtig
die Fußmatte an. Nein – keine Überraschungen. Er wusste, dass gleich nach der Abreise des Hausherrn Einsatzkräfte hier gewesen
waren. Der Türgriff war mit einem speziellen Mittel präpariert, das Fingerabdrücke fixierte. Neben dem Schloss war ein unsichtbarer,haardünner Faden befestigt. Der Faden war unversehrt, auf dem glänzenden Türgriff nicht die geringste Spur, nur eine hauchdünne
Staubschicht. Es waren also keine ungebetenen Besucher dagewesen.
Als Sergej den Schlüssel umdrehte, hörte er das Telefon klingeln. Der Apparat stand im Flur. Sergej schloss von innen ab,
seufzte tief und nahm den Hörer ab.
»Stas?«, fragte eine Frau
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