Der falsche Engel
am anderen Ende vorsichtig.
»Ja. Am Apparat.« Er stand mitten in einem unbekannten Flur und atmete die Luft der fremden Wohnung ein.
Wer ist das? Evelina? Galina? Oder vielleicht eine Dritte, von der Oberst Raiski nichts weiß, überlegte er, während er die
cremefarbenen Flurwände betrachtete.
»Was ist mit deiner Stimme?«
»Ich bin ein bisschen erkältet.« Sergej hustete.
»Wo warst du die ganze Zeit?«
Galina muss wissen, dass ich einen Unfall hatte und im Krankenhaus lag. Ihr Mann arbeitet in meiner Firma, und dort wissen
alle Bescheid. Also spreche ich mit Evelina? Aber sie kann ebenfalls in der Firma angerufen haben.
»Ich hab Neuigkeiten für dich, wir müssen uns unbedingt treffen. Ich hab jeden Tag bei dir angerufen. Die unverschämten Sekretärinnen
in deiner Firma sagen nur, du bist nicht da, und legen wieder auf. Bei deinen Eltern geht keiner ran. Was ist los, Gerassimow?«
»Meine Eltern sind nach Griechenland geflogen«, murmelte Stas.
»Freut mich für sie. Und wo hast du zwei Wochen lang gesteckt?«
»Ich lag im Krankenhaus.«
»Ach, wirklich?« Sie lachte unangenehm. »Und ich dachte, sie hätten dich wegen des Mordes an deinem Chauffeur verhaftet. Wie
bist du denn ins Krankenhaus geraten?«
»Ganz einfach. Mit dem Rettungswagen. Irgendein Schwachkopf ist bei mir aufgefahren, ich bin in den Wagen vor mir gekracht
und auf der Intensivstation aufgewacht.«
»Mein Gott, Stas, warum hast du denn nicht angerufen? Das ist ja furchtbar! Wie geht es dir jetzt?«
»Jetzt ist fast alles wieder in Ordnung. Ich bin mit einer leichten Gehirnerschütterung davongekommen, na ja, und das Gesicht
hab ich mir zerschrammt, die Windschutzscheibe ist zersplittert. Ansonsten nichts weiter Schlimmes. Ich bin gerade erst raus.«
»Ich komme sofort zu dir.«
Noch ehe Sergej widersprechen konnte, hatte sie aufgelegt.
Natalja kam herein, und ein kurzer Blick sagte dem General, dass der Grieche sein erstes Versprechen nicht gehalten hatte.
»Ich habe für morgen zwei Tickets nach Moskau bestellt«, sagte sie und setzte sich zu ihm aufs Bett. »Stas bleibt hier. Nikolai
wird ständig bei ihm sein.«
»Ja, Natalja.« Der General nickte gleichgültig.
»Wo hast du dich untersuchen lassen, Wladimir?«
»In einer Privatklinik.«
»Was haben Sie dir vorgeschlagen?«
»Was schon? Das übliche Menü. Operation. Resektion des Magens und eines Teil des Darms. Künstlicher Darmausgang. Danach Chemie,
Hormone, Bestrahlung.«
»Sie könnten sich geirrt haben.« Natalja strich ihm behutsam über die Wange. »Warum hast du dich nicht gründlicher untersuchen
lassen?«
»Du hast mich nicht verstanden, Natalja.« Der General lächelte, nahm ihre Hand und küsste ihre Handfläche. »Die Diagnose steht
fest. Ich bezweifle, dass sie mir helfen können. Sag lieber: Wo ist Stas?«
»Am Strand.«
»Weiß er schon Bescheid?«
»Noch nicht.«
»Sags ihm nicht. Das mache ich selbst. Und überhaupt bitte ich dich, es niemandem zu sagen. Ich weiß, es wird sich nicht verbergen
lassen, früher oder später werden es alle erfahren, aber je später, desto besser. Erinnerst du dich, wie du nicht glauben
wolltest, dass unser erstes Kind gestorben war?«
Natalja erstarrte. Der General hielt noch immer ihre Hand und spürte, wie ihre Finger kalt wurden.
»Ich dachte, du hättest Serjosha vergessen«, sagte sie.
»Nein, natürlich nicht. Es tat mir einfach zu weh, über ihn zu sprechen. Ich habe mich all die Jahre schuldig gefühlt. Er
ist auf meinem Arm gestorben; wenn ich rechtzeitig bemerkt hätte, dass er nicht mehr atmet, wäre er vielleicht zu retten gewesen,
durch künstliche Beatmung, durch Herzmassage. Aber ich war zu erschöpft von der Aufregung und zu besorgt um Stas.«
»Hör auf, Wladimir. Du bist nicht schuld daran.« Natalja nahm sein Gesicht in ihre Hände, beugte sich zu ihm hinunter und
sah ihm in die Augen. »Du bist nicht schuld.«
»Schon gut, Natalja. Darum geht es gar nicht. Erinnerst du dich, wie lange du nicht glauben wolltest, dass er tot ist? Ich
habe dich damals nicht verstanden. Das kam mir irgendwie krankhaft vor. Aber nun zeigt sich, dass du recht hattest mit deiner
Hartnäckigkeit. Ich weiß nicht, ob du mich verstehst. Ich habe sechzig Jahre lang in der Überzeugung gelebt, dass es nur eine
Wahrheit gibt. Die grobe, konkrete Realität, die man sehen und fühlen kann. An sie habe ich geglaubt, und sie hat mich nie
getäuscht. Nun aber hat sie mir ihren
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