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Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Die Tage waren noch winterlich kalt und dunkel, morgens und gegen Abend aber klarte es auf, die Sonne kam hervor,
     und Sergej reckte ihr sein Gesicht entgegen, schloss die Augen und fing gierig die ersten warmen Strahlen ein.
    Ganz in der Nähe hörte er das gleichmäßige Lärmen von Vorortzügen, und er mutmaßte, dass das geheime Objekt hinter der Betonmauer
     keineswegs an der äußersten Gebietsgrenze lag, sondern viel näher an Moskau. Aber er wusste schon, dass er niemanden fragen
     durfte.
    Es ging ihm von Tag zu Tag besser. Wenn er zu seinem Morgenspaziergang aufbrach, vergaß er häufig den Stock. Seine Genesung
     schritt rasant voran. Bald ersetzte er die Spaziergänge durch Jogging. Er wurde aus dem Krankenzimmer in eine Finnhütte verlegt,
     in der außer ihm noch fünf weitere Männer lebten, jeder in einem Einzelzimmer. Bei der Vorstellung nannten sie jeweils ihren
     Vornamen, aber weder Familiennamen noch Dienstgrad. Sergej wusste, dass sie alle Offiziere des FSB waren und sich hier von
     Verwundungen erholten.
    Genau wie die anderen nutzte Sergej die Krafttrainingsgeräte,machte Schießübungen, lief, sprang und ging in die Sauna. Er forderte sich bis zur körperlichen Erschöpfung und bemühte sich,
     weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft zu denken. Aber eines Nachts erwachte er, in kalten Schweiß gebadet, von seinem
     eigenen Schrei und entdeckte, dass er mitten im Zimmer stand und die Hand wie zum tödlichen Schlag erhoben hatte.
    Er hatte geträumt, dass Oberleutnant Kolja Kurotschkin vor seinen Augen gefoltert wurde. Bis zum Morgen tat er kein Auge mehr
     zu. Beim Frühstück schielte er zu seinen Nachbarn und erwartete, dass jemand fragen würde, warum er im Schlaf geschrien habe.
     Aber niemand fragte.
    Eines Tages hörte Sergej, während er schweißüberströmt an den Trainingsgeräten hing, plötzlich die Stimme von Hauptmann Gromow.
     Hauptmann Gromow war schon lange tot, aber seine Stimme lebte. Sergej hörte sie deutlicher als die Stimmen der Offiziere im
     Trainingssaal. Er trainierte weiter und zwang sich, sich nicht die Ohren zuzuhalten, nicht die Augen zu schließen und nicht
     zu brüllen wie ein tödlich verwundetes Tier. Schweigend und konzentriert machte er seine Übungen.
    Das Schlimmste war nicht das Blut gewesen, das als pulsierender Strahl aus den durchtrennten Arterien schoss, und auch nicht
     das knirschende, ächzende Geräusch, mit dem das Beil auf den nackten Hals traf. Ja, das Blut stand ihm noch lange als dunkelroter
     Schleier vor Augen, und auch das Geräusch hatte er noch wochenlang in den Ohren, aber das Schlimmste war etwas anderes. Das
     Gesicht des Mannes, der erst Oberleutnant Kurotschkin, dann Hauptmann Gromow hinrichtete, war streng und konzentriert, als
     hacke er Holz und befürchte, seine eigenen Finger zu treffen. Er bemühte sich, die Hinrichtung ordentlich auszuführen, ja
     schön. Er prahlte mit seinem Können, mit der Sicherheit und Präzision seiner Bewegungen. Er hatte viele Zuschauer. Die ganzeTruppe hatte sich zum Zuschauen versammelt. Mit einer Videokamera wurde alles aufgenommen.
    Sie filmten überhaupt gern. Nicht nur Folter und Hinrichtungen, sondern auch sich selbst – beim Essen, beim Training, wenn
     sie ihre Feste feierten, wenn sie Schaschlik aus einem jungen Hammel brieten, beim Gebet vor dem Gefecht.
    Sergej zog sich langsam und mühselig am Reck hoch und ließ sich noch langsamer wieder herab, zehn-, fünfzehn-, zwanzigmal.
     Seine Augen schwammen in Schweiß, und in dem regenbogenfarbigen salzigen Schleier tauchte das Gesicht des Mannes auf, der
     den Oberleutnant und den Hauptmann hingerichtet hatte. So deutlich, dass Sergej die Falten zwischen den dichten, beweglichen
     Brauen sah, die großen Poren auf der groben, braunen Haut, die rostbraunen Augen und das blutrote geplatzte Äderchen im äußersten
     Augenwinkel. Major Loginow sah das alles so deutlich, als befinde er sich nicht im Trainingssaal, sondern säße unter blassem
     Novemberhimmel an einen Baum gelehnt auf der Erde, in der Nähe des Bergdorfes Assalach.
    Die Mündung einer Maschinenpistole bohrte sich in seinen Hinterkopf. Der Geruch von gebratenem Hammelfleisch stieg ihm in
     die Nase. Nach der Hinrichtung sollte das übliche Gelage folgen, und auf dem Grill im Hof des Nachbarhauses wurde Schaschlik
     gebraten. Seine Hände waren gefesselt und das lange Ende des Stricks um den Baum gewickelt. Doch das schien ihnen nicht zu
     genügen, denn sie hatten

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