Der falsche Engel
verbessern. Haben Sie in der Facharztausbildungnicht gelernt, dass ideale Proportionen ein Gesicht banal und langweilig machen und keineswegs schön sind? Eine Frau braucht
eine kleine Unregelmäßigkeit, etwas Pikantes, sonst sieht sie aus wie eine Puppe.«
»Entschuldigen Sie, Pjotr«, empörte sich Julia, »aber das ist Demagogie. Swetlana Wassilkowa ist ein sehr schönes Mädchen
und braucht nichts Pikantes. Ihre Mutter will bloß ihre eigenen Probleme auf jemand anderen abwälzen. Sie sucht Schuldige,
und ich versichere Ihnen, wenn ich eingewilligt hätte, dann wäre nach der Operation auch ich an allem schuld gewesen.«
»Warum?«
»Weil kein Chirurg das Gesicht von Sweta Wassilkowa schöner machen kann, als der liebe Gott es gemacht hat. Wenn wir jedes
Dummchen operieren, dem Frauenzeitschriften und neidische Freundinnen etwas einreden, dann sind wir Betrüger, dann ist unser
Ruf keinen Pfifferling mehr wert.«
Mamonow holte ein Papiertaschentuch hervor, wischte sich die feuchte Glatze ab und brüllte dröhnend: »Marina! Ich habe Sie
vor zwei Stunden gebeten, Kaffee zu kochen! Was ist los, sind Sie eingeschlafen?«
Augenblicklich erschien ein erschrockenes Gesicht im Türrahmen. Schwester Marina, mit ihrer weißen Pantolette wippend, zwitscherte:
»Davon haben Sie nichts gesagt, Sie trinken überhaupt keinen Kaffee, aber wenn Sie es wünschen – sofort!«
»Sofort! Augenblicklich! Für mich Tee, für Doktor Tichorezkaja Kaffee!« Mamonow erhob sich aus seinem Sessel, ging zum Fenster
und starrte auf eine dicke schwarze Krähe, die auf dem Ast einer Pappel saß und ein Stück Alufolie im Schnabel hielt.
»Was ist los mit Ihnen, Pjotr?«, fragte Julia leise.
»Verzeihen Sie mir, mein Kind«, sagte er kaum hörbar,»ich war unbeherrscht und habe dummes Zeug geredet. Sie haben vollkommen richtig gehandelt. Es geht um etwas ganz anderes.
Ich hatte heute Besuch von einem Oberst des FSB.«
»Wegen Angela?«
»Nein … wohl kaum. Nach den Tätern, die sie zusammengeschlagen haben, fahndet die Miliz, nicht das FSB. Jedenfalls hat der
Oberst nicht nach ihr gefragt.« Mamonow setzte sich wieder in den Sessel und sah Julia einige Sekunden so mitfühlend an, dass
ihr ganz mulmig wurde. »Der Oberst hat sich nach Ihnen erkundigt, mein Kind. Und das gefällt mir überhaupt nicht.«
»Ach was, Pjotr!« Julia lächelte munter. »Kein Problem! Ich habe absolut nichts zu befürchten. Ich bin weder Spionin noch
Terroristin.«
»Ach, Julia, wenn die sich nur für Spione und Terroristen interessieren würden … Ich bin ein alter Mann, aber wissen Sie,
in mir sitzt noch immer die irrationale, kindliche Angst vor dieser Organisation.«
»Ich verstehe.« Julia nickte. »Aber nun kommen Sie doch bitte zur Sache.«
»Ja, ja, das macht der Generationsunterschied. Wie alt sind Sie? Sechsunddreißig? Ich bin zwanzig Jahre älter. Sie haben keine
Angst. Mir dagegen zittern die Knie. Im Grunde war dieser Oberst nicht sehr konkret. Er hat mir nur ein paar Fragen über Sie
gestellt.«
»Zum Beispiel?«
»Nun, was für ein Mensch Sie sind.«
»Und was bin ich für ein Mensch?«, fragte Julia lächelnd.
»Ich habe nur das Beste gesagt«, erwiderte Mamonow herausfordernd, »ich habe ihm erklärt, dass ich Sie seit ihrer Studienzeit
kenne und mich für Sie verbürgen kann. Sie sind die beste Chirurgin nicht nur unserer Klinik, sondern eine der besten Fachkräfte
in ganz Moskau.«
Julia errötete vor Freude ein wenig. So etwas sagte Mamonow in den achtzehn Jahren ihrer Bekanntschaft zum ersten Mal.
»Aber wissen Sie«, fuhr er mit gesenkter Stimme fort, »darauf reagierte dieser Oberst sehr merkwürdig. Er hat gelacht. Er
sagte, ich müsse mich nicht für Sie verbürgen. Ich weiß nicht, was er damit meinte. Aber es hat mich argwöhnisch gemacht.
Überhaupt hat mir dieser Besuch sehr missfallen. Keinerlei Erklärungen, nur Fragen seinerseits und Antworten meinerseits.«
Julia zuckte die Achseln. »Sie hätten Erklärungen verlangen sollen. Wie kommen Sie dazu, blindlings zu antworten?«
»Ach, mein Kind, ich möchte Sie sehen, wie Sie von so einem Mann irgendwas verlangen. Wissen Sie, was für furchteinflößende
Augen der hat? Aber ich will Ihnen nicht vor der Zeit Angst machen. Vielleicht ist es ja wirklich nichts Schlimmes. Er hat
eine Visitenkarte für Sie hinterlassen; Sie möchten ihn bitte anrufen.« Mamonow griff in seine Kitteltasche, förderte einen
Haufen Papier zutage,
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