Der falsche Engel
geschlafen wie ein Toter. Und vor allem
– wie soll ich zu Ihrer Nummer gekommen sein, wenn ich bis eben keine Ahnung hatte, wie Sie heißen?«
Gena hatte eine unglaublich hohe Falsettstimme und sprach hastig, beinahe keuchend. Er konnte wohl kaum einen samtigen Natschalnikbass
imitieren. Julia war sich sicher, dass sie in der Nacht mit jemand anderem gesprochen hatte.
»Aber wer hat mich dann angerufen?«, fragte sie und sah von dem Produzenten zu Angela.
»Das finden wir heraus«, erklärte die Sängerin entschieden, »ich schwöre, das wird nicht wieder vorkommen. Aber lehnen Sie
die Operation nicht ab, bitte!«
In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Mamonow kam auf Hausherrenmanier herein. Er hatte den letzten Satz noch gehört
und fragte mit salbungsvoller Stimme: »Was denn, Julia Nikolajewna, haben wir wieder ein Problem?«
»Guten Tag, Pjotr.« Julia lächelte breit. »Ja, wir haben ein Problem.« Sie erzählte von dem nächtlichen Anruf.
Mamonow hörte sie stirnrunzelnd an, nickte besorgt,räusperte sich und sagte: »Ja, das ist unangenehm. Aber keineswegs ein Grund, jemandem die Behandlung zu verweigern.«
»So etwas wird nicht wieder vorkommen«, sagte Angela düster. »Niemand wird Sie mehr belästigen. Wenn Sie mich jetzt wegschicken,
werde ich nicht mehr weiterleben …«
In den zehn Jahren ihrer Arbeit als kosmetische Chirurgin hatte Julia gelernt, zu unterscheiden, wann eine Selbstmorddrohung
wegen äußerer Makel nur eine Drohung war und wann es jemand wirklich ernst meinte. Bei Angela handelte es sich um eine wirklich
gravierende Entstellung, mit der man sich mit zweiundzwanzig tatsächlich kaum abfinden konnte.
Alle sahen auf Doktor Tichorezkaja. Sie schwieg. Natürlich hätte sie den hässlichen nächtlichen Anruf einfach vergessen und
das Mädchen auf die Operation vorbereiten können, und eigentlich war sie bereits so weit, »ja« zu sagen. Aber irgendetwas
hinderte sie daran.
»Ich bin nicht die einzige kosmetische Chirurgin«, sagte sie, wobei sie selbst spürte, dass sie nur Zeit gewinnen wollte und
nicht recht wusste, warum. »Nicht die einzige und bei Weitem nicht die beste.«
Mamonow verzog das Gesicht. »Lassen Sie das Kokettieren. Entscheiden Sie sich – ja oder nein.«
»Ja«, knurrte Julia wütend.
Sechstes Kapitel
Der FSB-Oberst Michail Raiski erschien bei den Gerassimows genau eine Stunde nach dem Anruf des Generals. Gerassimow hatte
am Telefon nichts weiter erklärt, sondern nur gesagt: »Michail, ich habe ein Problem, ich brauche deine Hilfe.«
Sie hatten sich anderthalb Jahre nicht gesehen, und der Oberst registrierte, wie sehr sich sein ehemaliger Chef verändert
hatte. Noch vor kurzem war er ein kräftiger, sportlicher Alter gewesen, hatte Tennis gespielt, war jeden Morgen gejoggt und
gern in die Sauna gegangen. Nun wirkte er aufgedunsen und schlaff, seine Haut hatte einen unguten Erdton angenommen, seine
Tränensäcke waren geschwollen, und die Augen blickten derart wehmütig, dass man am liebsten weggesehen hätte.
»Guten Tag, Michail.« Der General umarmte ihn schwach und führte ihn ins Wohnzimmer, wo die schüchterne junge Haushälterin
Oxana den Kaffeetisch deckte.
»Wo ist denn Natalja?«, fragte Raiski, während er sich in einen tiefen Sessel setzte und die langen, dürren Beine zu einem
Kringel verschlang.
»Im Schlafzimmer. Sie ist krank«, antwortete der General kurz angebunden.
»Wieder ihr Asthma?«
»Ja, sie hatte einen schlimmen Anfall. Aber jetzt schläft sie zum Glück.«
»Und wie geht es Ihnen selbst?«
»Ach, Michail, frag lieber nicht«, seufzte der General. »Wie soll es mir schon gehen, wenn man meinem kleinen Scheißer eine
Sprengladung ans Auto heftet?«
Oxana schenkte dem Oberst starken Kaffee ein, dem General dünnen Pfefferminztee und entfernte sich lautlos. Eine Weile schwiegen
die beiden Männer. Raiski nippte vorsichtig am Kaffee und schob sich ein Stück Schokoladenkonfekt in den Mund. Er hatte bereits
begriffen, dass der kleine Scheißer, Stas Gerassimow, der einzige Sohn des Generals, am Leben geblieben war.
»Waren unsere Leute am Ort der Explosion oder die Miliz?«, fragte Raiski.
»Es gab keine Explosion. Stas hat vom Balkon aus gesehen,wie sich zwei Männer mit Stoffmützen an seinem Auto zu schaffen machten, und die Miliz gerufen. Dafür hat sein Verstand immerhin
gereicht. Die Miliz war da und unsere Leute auch. Untersuchungsführer Tschishow aus der Kreisverwaltung.
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