Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
Vom Netzwerk:
sich auf, noch immer auf Knien, und betasteten wie Blinde ihr Gesicht, von den Schläfen
     bis zur Bartspitze. Die Kamera schwenkte auf den Major. Er kniete zwischen den Betenden.
    Dann folgte ein Gelage. Monotone orientalische Musik. Lautes Gelächter, hastige, heisere Reden, tschetschenische Worte vermischt
     mit russischen Flüchen, kauende, fettglänzende Gesichter. Sergej saß zwischen den Banditen, einen halbleeren Schaschlikspieß
     in der einen, ein Stück Fladenbrot in der anderen Hand.
    »Schmeckt das Schaschlik?«, fragte Raiski leise.
    Sergej antwortete nicht.
    Die Handlung ging weiter. Vor einer weißen Wand stand ein Mann. Er war furchtbar abgemagert. Die zerrissene Wattejacke auf
     dem nackten Körper hing an ihm wie an einem Kleiderständer. Sergej hatte den Mann im Lager nie gesehen. Das Gesicht kam langsam
     näher und füllte schließlich den ganzen Bildschirm.
    »Man wird mich gleich töten«, sagte der Mann in hastigem, pfeifendem Flüsterton, »aber sie haben noch drei von uns. Es ist
     sehr schlimm hier. Bitte zahlt das Lösegeld. Mich werden sie töten, aber die anderen können noch gerettet werden, Slawik,
     Vitja und Sanja … Bitte, zahlt das Lösegeld, ich bitte euch sehr, das ist mein letzter Wunsch …« Er fing an zu weinen und
     fiel schwerfällig auf die Knie. Er schautein die Kamera, und es schien, als würden seine riesigen, schwarzgeränderten Augen gleich den Bildschirm versengen. Über die
     eingefallenen, mit grauen Bartstoppeln bedeckten Wangen rannen Tränen. Die Schultern unter der Wattejacke bebten. Die Kamera
     entfernte sich. Ein weiterer Mann kam ins Bild, ein Bursche um die zwanzig im Tarnanzug. Die Kamera fuhr ganz dicht heran,
     zur Großaufnahme, die Bildqualität war ausgezeichnet, die Szene gut ausgeleuchtet. Ein rundes Gesicht, eine breite Stupsnase,
     graue Augen, helle, lange Wimpern wie bei einem Kalb, auf Stirn und Wangen Aknenarben. Ein einfacher, gutmütiger Bursche aus
     der stillen russischen Provinz. Sein Bart wuchs in farblosen Büscheln und stand ihm überhaupt nicht. Über sein Gesicht irrte
     ein Lächeln. Er hielt eine Maschinenpistole umklammert.
    »Ja, also«, sagte er in die Kamera und spuckte aus, »ich werd ihn jetzt umlegen. Im Namen Allahs, also.« Er spuckte noch einmal
     aus. »Was ist, Brüder, kann ich?«
    »Warte, mein Lieber, du hast noch nicht gesagt, wer du bist und wie du heißt.« Sergej erkannte die Stimme aus dem Off sofort.
     Es war Ismailow. Im nächsten Augenblick kam er ins Bild, umarmte den Jungen und klopfte ihm auf die Schulter. »Na los, Dshigit,
     sag allen, wer du bist.«
    »Ja, also, äh … Ich bin Feldwebel Andrej Trazuk, Jahrgang 1987, Russe …« Der Bursche spuckte erneut aus, seine Augen huschten
     hin und her. »Ich bin vor einer Woche Moslem geworden und in die Reihen der Befreiungsarmee Itschkeriens eingetreten und heiße
     jetzt Hassan.«
    »Prima!«, ließ Ismailow sich vernehmen. »Du bist jetzt mein Bruder. Und ich liebe alle meine Brüder. Du wirst viel Geld haben
     und vier schöne Frauen.«
    Die Kamera schwenkte wieder auf den Mann an der Wand. Der kniete noch immer. Er hatte das Gesicht zum Himmel gewandt und murmelte
     lautlos vor sich hin, hobunsicher die zitternde Hand und bekreuzigte sich. Aus dem Off ertönte Gelächter. Es kam von mehreren Männern, die Kamera schwenkte
     ruckartig herum in die Totale. Der ehemalige Andrej Trazuk feuerte eine kurze MPi-Salve ab. Der Mann an der Wand stürzte in
     den Staub.
    »Vielleicht machen Sie doch mal die Augen auf?«, hörte Sergej Oberst Raiski sagen.
    »Ich sehe alles«, antwortete er, ohne den Kopf zu drehen. »Ich sehe alles sehr gut.«
    »Ja? Ich dachte, Sie wären eingeschlafen. Sagen Sie, haben Sie diese beiden Männer im Lager getroffen? Den Erschossenen und
     den frischgebackenen Hassan?«
    »Dem Erschossenen bin ich nicht begegnet. Aber Hassan habe ich gekannt. Solche Hassans gab es dort fünf.«
    »Tatsächlich? Fünf, sagen Sie? Na schön, lassen wir uns nicht ablenken.«
    Sergej sah eine weitere Geisel an der Wand, weniger abgemagert als die erste. Der Mann blickte in die Kamera und wiederholte
     die Bitte um Lösegeldzahlung mit ruhiger, unaufgeregter Stimme. Das Bild stoppte – Oberst Raiski hatte die Pausentaste gedrückt.
    »Kennen Sie das Gesicht dieses Mannes?«
    »Nein.«
    »Schauen Sie genauer hin. Vielleicht haben Sie es vergessen.«
    »Nein. Ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter.«
    »Ja? Na schön.«
    Raiski ließ das Band

Weitere Kostenlose Bücher