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Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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legte ihn auf den kleinen Tisch, wühlte darin herum und reichte Julia ein Hochglanzkärtchen.
    Julia las: »Michail Jewgenjewitsch Raiski«, darunter eine Telefonnummer. Nichts weiter.
     
    Oberst Raiski tauchte manchmal im Sportsaal oder am Schießstand auf, unterhielt sich aber mit niemandem, sondern stand nur
     da und beobachtete. Er war der Psychologe, der Sergej vor einem Monat im Krankenzimmer besucht hatte. Später hatte Sergej
     erfahren, dass Raiski hier eine große Nummer war. Und natürlich keineswegs Psychologe.
    Sergej hatte geahnt, dass der Oberst ihn eines Tages erneut ansprechen würde, und dann würde sich vielleicht einiges klären.
     Er spürte, dass von diesem hageren, hochmütigenMann einiges abhängen würde für sein weiteres Leben. Aber er wollte keine Fragen stellen – bis Raiski ihn eines Morgens zu
     sich bat.
    In dem geräumigen, behaglichen Büro roch es nach Kaffee. Der Oberst saß in einem Sessel an einem kleinen Tisch, die langen,
     dürren Beine zu einem Kringel verschlungen. Durch das Fenster in seinem Rücken schien die Sonne herein, und im ersten Moment
     sah Sergej nur eine schwarze Silhouette. Raiski trank Kaffee aus einer dünnen, zierlichen Porzellantasse, las in einem politischen
     Magazin und schien Sergej gar nicht zu beachten.
    Das ist Absicht, entschied Sergej, er gibt mir zu verstehen, dass ich hier ein Niemand bin.
    »Guten Tag, Genosse Oberst. Major Loginow auf Ihren Befehl …«
    »Setzen Sie sich.« Raiski wies mit einem Kopfnicken auf einen Sessel. »Möchten Sie Kaffee?«
    »Danke, gern.«
    Der Oberst legte das Magazin beiseite, stand auf, sah zur Tür hinaus und sagte mit halblauter, ein wenig schläfriger Stimme:
     »Fedja, mach bitte noch Kaffee.«
    In der nächsten Minute erschien der Adjutant mit einer dampfenden Kaffeetasse auf einem Tablett.
    »Nun, Major, wie geht es Ihnen?« Der Oberst sah Sergej zum ersten Mal in die Augen, durchaus freundlich, ja, mit Wärme.
    »Danke, Genosse Oberst. Gut.«
    »Die Narben jucken abends bestimmt.«
    »Ein bisschen«, gestand Sergej und nahm einen Schluck von dem starken, süßen Kaffee.
    »Das geht vorbei«, versprach Raiski, »Hauptsache, das Jucken stört Ihren Schlaf nicht. Schlafen Sie gut?«
    »Ausgezeichnet.«
    »Keine Alpträume?«
    »Nein.«
    Aha, die Nachbarn hatten ihm also von seinen nächtlichen Schreien berichtet.
    »Ich beneide Sie, Major.« Raiski lächelte. »Sie haben erstaunlich starke Nerven. Wenn man vor meinen Augen zwei Kameraden
     den Kopf abgehackt hätte, könnte ich bestimmt nicht ruhig schlafen. Mit Oberleutnant Kurotschkin hatten Sie nur ein Jahr zusammen
     gedient, aber Hauptmann Gromow kannten Sie schon seit Afghanistan. Er war Ihr enger Freund.«
    Sergej trank in einem Zug den restlichen Kaffee aus und stellte die federleichte Porzellantasse ab.
    »Ich verstehe, wie ungern Sie zurückdenken an Ihre Erlebnisse in der Gefangenschaft, aber es muss sein.«
    Ohne aufzustehen, wandte sich der Oberst um, streckte die Hand aus und ließ die Jalousien herunter. Im Büro herrschte nun
     Halbdunkel, und kurz darauf flammte ein Fernsehbildschirm auf.
    Das Erste, was Sergej erblickte, war sein eigenes Gesicht in Großaufnahme. Ihm war, als sehe er sich selbst aus einer anderen
     Dimension. Das Leben hatte sich hinter den Bildschirm zurückgezogen und ging dort weiter, hier jedoch, in diesem gemütlichen
     Büro, waren nur Schatten … Langsam kroch der Geruch nach leicht angebranntem Hammelfleisch durch den Raum, Übelkeit stieg
     in Sergej auf. Er hörte ein bekanntes kollerndes Lachen. Das war Schamil Ismailow, der Anführer der Bande.
    »Na also, Major Loginow, jetzt bist du mein Bruder«, ertönte Ismailows tiefe Stimme, »nun gehörst du zu uns – Glückwunsch!
     Warum nicht gleich so. Du warst ein Hund, und nun bist du ein echter Dshigit. Allah ist gnädig, er gibt jedem eine Chance,
     auch den Ungläubigen …«
    In dieser Szene waren sie nur zu zweit. Ismailow umarmte Sergej und klopfte ihm auf die Schulter. Das Gesichtdes Majors war vollkommen ausdruckslos. Er schwieg und blickte ins Objektiv.
    »Sie sehen nicht schlecht aus«, kommentierte Raiski, »gesunder Teint, solide, saubere Kleidung.«
    Die Szene wechselte. Auf dem Bildschirm sah man ein Morgengebet. Die Banditen beteten, zum eintönigen Gesang des Mullahs glitt
     die Kamera über kniende Männer. Zwanzig Kämpfer, auf allen vieren gekrümmt, die Rücken zum Katzenbuckel gebogen, wühlten mit
     der Nase im Staub. Dann richteten sie

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