Der falsche Engel
gewisse Scharfsichtigkeit besitzen, um zu erkennen, was unseren Experten aufgefallen ist. Wissen Sie, wie ein Fernsehzuschauer
hinsieht und was er sieht? Das Video lief nämlich im Fernsehen, auf drei Sendern. Die Namen der Verräter wurden nicht genannt.
Auf spezielle Anweisung des Generalstabs. Nur die Gesichter wurden gezeigt, kommentiert mit zornigen Worten über Söldner,
über gewissenloses Gesindel, das zu den Banditen überläuft. Wissen Sie, Sie haben ein sehr prägnantes Gesicht.« Raiski lächelte
sanft. »Sie stehen auf der Fahndungsliste, Major.«
»Was ist mit meiner Mutter?«, fragte Sergej heiser.
Raiski maß ihn mit einem langen, prüfenden Blick, räusperte sich und sagte langsam: »Wir wollten Sie nicht belasten. Vera
Sergejewna hatte einen Herzinfarkt. Noch bevor das Video in den Nachrichten lief. Sie kam ins Krankenhaus, als sie erfahren
hatte, dass Sie vermisst werden. Sie wurde operiert, aber es gab Komplikationen …« Er stand auf, ging gemächlich zum Schreibtisch,
zog eine Schublade auf und nahm einen festen Umschlag heraus. »Hier, sehen Sie.«
Die Fotos zeigten eine magere alte Frau im Sarg.
»Mein herzliches Beileid«, sagte Raiski knapp.
»Entschuldigen Sie, ich muss jetzt allein sein.«
Achtes Kapitel
Stas Gerassimow erwachte mit schwerem Kopf und begriff nicht gleich, wo er sich befand. In der Wohnung war es still und schwül,
und es roch nach Evelinas Parfüm. Über ihm knurrte etwas penetrant. Stas glaubte, Evelina habe sich auf ihre alten Tage einen
großen, fetten Kater angeschafft, und stöhnte mit geschlossenen Augen: »Lina, nimm das Tier weg!«
Keine Reaktion – das nervtötende Knurren hielt an. Stas öffnete die Augen. Evelina war nicht da, aber auf dem Nachttisch blinkte
das rote Licht des Telefons.
»Lina!«, rief er noch einmal. »Nimm ab!«
Er lauschte und stellte fest, dass er allein war. Die Wanduhr zeigte halb eins. Das Telefon knurrte noch immer, und Stas hob
den Hörer ab. Er blieb stumm. Stas fluchte, warf das Telefon aufs Bett und zwang sich aufzustehen.
Im Bad stand mit Lippenstift am Spiegel: »Bin um drei wieder da. Warte auf mich.« Daneben prangte ein fetter Lippenabdruck.
Unter der heißen Dusche wurde ihm wesentlich besser. Der Kopf wurde klar. Als Erstes erinnerte er sich, dass Evelina ihm in
der Nacht drei starke Schlaftabletten gegeben hatte. Dann kamen auch die anderen Einzelheiten zurück.
Nach dem Essen im Restaurant hatten er und Evelina im Auto die Leiche seines Chauffeurs Georgi entdeckt. Nach dem ersten Schock
hatte Evelina mit zitternden Händen ihr Handy aus der Tasche geholt und geflüstert: »Wie ist die Nummer? 02, oder?«
Stas hatte ihr schweigend das Telefon aus der Hand genommen und es, statt die Miliz anzurufen, ausgeschaltet und zugeklappt,
Evelinas Hand gepackt und sie von dem verfluchten Mercedes weg in Richtung Twerskaja gezogen.
»Was soll das, spinnst du? Das geht doch nicht!«, rief sieerschrocken, stöckelte aber auf ihren dünnen, hohen Absätzen brav hinter ihm her. Sie stiegen in den ersten Wagen, der anhielt.
Geistesgegenwärtig nannte Evelina dem Fahrer ihre Adresse und streichelte die ganze Fahrt über schweigend Stanislaws Hand.
In der Wohnung hatte Stas die Tür fest verriegelt und war ins Schlafzimmer gegangen, wobei er sich auszog und seine Kleider
einfach auf den Boden warf. Er zitterte, seine Zähne klapperten. Evelina tröstete und küsste ihn, und es war wunderschön,
zärtlich und leidenschaftlich, wie früher, ganz am Anfang ihrer Affäre.
Um Mitternacht hatte ihm Evelina wie einem Kleinkind löffelweise Milch mit Honig eingeflößt. Er hatte ihr nicht die Wahrheit
erzählt, sondern ihr eine halbwegs glaubwürdige Geschichte aufgetischt: Der Chauffeur Georgi habe Probleme gehabt, die mit
seinem früheren Dienst zusammenhingen.
»Ich glaube, er war mal Aufseher im Lager – vielleicht haben sich ehemalige Häftlinge an ihm gerächt.«
»Und warum sind wir dann weggelaufen?«, fragte sie durchaus logisch.
»Weil ich Depressionen habe und keine Kraft, mit den Bullen zu reden, eine Aussage zu machen …«
»Aber da kommst du doch sowieso nicht drum rum. Er war dein Chauffeur, der Wagen gehört deiner Firma, und dass wir weggelaufen
sind, wird nur noch mehr Fragen aufwerfen.«
»Wir sind nicht weggelaufen«, murmelte Stas nachdenklich, »wir haben gar nichts gesehen. Wir haben im Restaurant eine Menge
getrunken, du hast ein Taxi gerufen, und ich habe
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