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Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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joggen.«
    Draußen ertönten Stimmen, dann kam Doktor Awanessow herein. Er trug Kittel, Mütze und Mundschutz. Ihn begleitete eine hochgewachsene
     schlanke Frau, ebenfalls in voller Medizinermontur; obendrein trug sie auf der Stirn einen runden Spiegel mit einem Loch in
     der Mitte, wie ihn HNO-Ärzte benutzen.
    »Machen Sie sich bekannt, Sergej, das ist Julia Nikolajewna, eine sehr erfahrene Ärztin, sie ist aus Moskau gekommen, um Sie
     zu untersuchen«, stellte Awanessow vor.
    Sergej sah nur braune Augen – groß, klar und ruhig.
    »Guten Tag.« Sie lächelte unter dem Mundschutz, trat zu Sergej und fasste sanft nach seinem Kinn. »Drehen Sie sich bitte um.«
    Ein blendender Lichtstrahl traf sein Gesicht, und er kniff die Augen zusammen.
    »Sie können die Augen ruhig schließen«, erlaubte Julia, »und entspannen Sie sich bitte.«
    Sie hatte eine ziemlich tiefe, volle Stimme und roch nach einem teuren leichten Parfüm. Ihre kalten schlanken Finger glitten
     über Sergejs Gesicht.
    »Sind Sie HNO-Ärztin?«, fragte er.
    »Ja, ja, sie ist HNO-Ärztin, promoviert«, antwortete Awanessow rasch an ihrer Stelle. »Weißt du, während du hier bei uns lagst,
     haben wir dich rundum durchgecheckt und unter anderem auch eine Aufnahme von deinem Schädel gemacht. Für alle Fälle. Also,
     mein Lieber, deine Stirnhöhle wird unzureichend entwässert, wegen einer Wucherung in der linken Nasenhöhle und einer Krümmung
     der Nasenscheidewand. Und das, mein Lieber, könnte dazu führen, dass die akute Frontitis chronisch wird.« Der Doktor hüstelte
     künstlich, dann trat Stille ein.
    Sergej sah die wunderschön geformten großen braunen Augen vor sich. Die äußeren Augenwinkel waren leicht nach unten abgeschrägt
     und von langen Wimpern umrahmt.
    »Doktor Awanessow, kann ich Sie einen Moment sprechen?« Die Stimme der Frau klang ganz ruhig, aber ein wenig dumpf.
    »Selbstverständlich, Julia Nikolajewna, natürlich, meine Liebe.«
    Awanessow nahm galant ihren Arm.
    Die Tür schloss sich hinter ihnen, doch Sergej hörte noch die lauten, empörten Worte der Frau: »Was soll der Zirkus? Sie sind
     doch Arzt!«
    »Leise, leise, meine Liebe«, schnurrte Awanessow.
    »Katja, was geht hier vor?«, fragte Sergej.
    »Lass mich bitte in Ruhe«, flüsterte sie und wandte sich ab. Er bemerkte, dass ihr Gesicht glühte.
    Awanessow kam allein zurück, sehr schnell. Seine künstliche Munterkeit war wie weggeblasen. Er zog die Maske aufs Kinn herunter
     – er war mürrisch und rot wie eine gekochte Rübe.
    »Zieh dich aus!«, schnauzte er Sergej an.
    »Können Sie mir endlich mal erklären, was los ist?«
    »Nein, das kann ich nicht!«, brüllte Awanessow. »Ich darf nicht! Ich bin Soldat, zum Teufel mit euch allen! Ich bin Arzt,
     aber Soldat, verstehst du? Ich habe einen Befehl! Und du auch!«
    »So, was habe ich denn für einen Befehl? Und von wem?« Sergej kniff die Augen zusammen.
    »Keine Fragen zu stellen! Das ist dein Befehl! Der kommt vom Leben selbst, klar! Vom Tschetschenienkrieg! Schluss jetzt, zieh
     die Hose aus, ich will mir deine Beine ansehen!«
    »Und die Frau mit dem Spiegel, ist die auch Militärärztin?«, fragte Sergej.
    »Julia? Nein. Sie nicht.«
    »Aber sie ist auch keine HNO-Ärztin?«
    Awanessow erstarrte und sagte leise, kaum hörbar: »Quäl mich nicht, Sergej, ich schwöre, man will dir hier nichts Böses antun.
     Glaubst du mir das?«
    »Glauben Sie sich denn selbst?«
    »Untersteh dich, so mit mir zu reden! Du grüner Junge! Hab ich deine Beine wieder hingekriegt? Na los, sag schon!«
    »Das haben Sie.« Sergej nickte. »Vielen Dank dafür.«
    Weiter sagte Sergej kein Wort. Er entkleidete sich bis auf den Slip und legte sich aufs Bett.
    Awanessow, noch immer empört schnaufend, untersuchte seine Beine, tastete sie ab, drückte darauf herum, bat Sergej, sie zu
     beugen und zu strecken und die Zehen zu bewegen. Sergej beobachtete sein Gesicht.
    Nach und nach verschwand die Wut, und unter dem üppigen graumelierten Schnauzbart zitterte ein zufriedenes Lächeln. Doktor
     Awanessow freute sich über das glänzende Ergebnis seiner Arbeit.
    »Alles bestens. Katja, komm her.«
    Katja trat mit erhobener Spritze in der Hand ans Bett und ließ einen dünnen Strahl herausschießen, um die Luftblasen zu beseitigen.
    »Was ist das?«, fragte Sergej, ohne auf eine Antwort zu hoffen, erfuhr jedoch: »Triombrast. Ein spezielles Kontrastmittel
     für Röntgenaufnahmen.«
    Ein kühler, alkoholgetränkter Wattebausch

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