Der falsche Engel
üppig behaart und trug einen sauber gestutzten Schnurrbart, der Stas an
einen dicken Blutegel erinnerte.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Stas nacheinem heiseren Räuspern. »Papa, setz dich bitte. Ich kann nicht mit deinem Rücken reden.«
Der General drehte sich abrupt um und starrte Stas mit irren Augen an. »Mutter hat einen Asthmaanfall, ich hab es mit dem
Herzen und ein Magengeschwür, und du geruhst nicht einmal anzurufen! Weißt du, dass Georgi getötet wurde?«
»Papa, setz dich und beruhige dich«, flüsterte Stas, der spürte, dass er anfing zu zittern. »Ich verstehe überhaupt nichts,
wenn du so schreist.«
»Georgi wurde getötet, dein Chauffeur, in deinem Wagen. Ein frontaler Kopfschuss, mitten in die Stirn, während er vor dem
Restaurant auf dich Mistkerl wartete.«
Wladimir sank keuchend in einen Sessel und fragte dann etwas ruhiger: »Wo hast du die Nacht verbracht?«
»Bei einer Freundin.« Stas schluckte krampfhaft. »Ich habe bei einer alten Freundin übernachtet. Du kennst sie nicht. Wir
sind gestern vom Restaurant aus mit dem Taxi zu ihr gefahren.«
»Einen Augenblick, Stanislaw.« Pleschakow hob die Hand – an seinem kleinen Finger blitzte ein Brillantring. »Wussten Sie bereits,
dass Ihr Chauffeur ermordet wurde? Oder haben Sie das eben erst erfahren?«
»Ich … Nein … Moment, ich verstehe nicht – was ist mit Georgi?«
»Ihr Chauffeur wurde heute morgen tot im Wagen gefunden, an der Ecke der Wassiljew-Straße«, sagte Pleschakow langsam und deutlich,
wobei er Stas bohrend anschaute, »nach vorläufigem Urteil des Sachverständigen wurde er gegen acht Uhr abends getötet. Offensichtlich
haben Sie im Restaurant ›Anker‹ gegessen, und der Chauffeur hat auf Sie gewartet. Warum sind Sie mit dem Taxi gefahren?«
»Georgi hat auf mich gewartet?« Stas zwinkerte heftig.»Ich hatte ihn doch weggeschickt. Oder nicht? Verdammt, ich kann mich nicht erinnern. Ehrlich gesagt, habe ich gestern ziemlich
viel getrunken, es ist alles weg. Ich dachte, ich hätte ihn weggeschickt. Wir sind auf die Twerskaja gegangen und haben ein
Auto angehalten.«
»Entschuldigen Sie, Stanislaw, aber soviel ich weiß, trinken Sie kaum, und die Ermittler werden feststellen können, was und
wie viel Sie gestern beim Essen getrunken haben und in welche Richtung Sie gegangen sind, als Sie das Restaurant verließen.«
Pleschakow lächelte listig.
»Unerhört! Sie wollen sagen, ich hätte Georgi getötet?«
Stas lachte nervös, das Lachen ging in Hicksen über, aus seinen Augen rannen Tränen.
Pleschakow öffnete ohne Hast eine kleine Bar, nahm eine Flasche Mineralwasser heraus, goss ein Glas voll und brachte es Stas.
Der trank gierig, aber das Hicksen hörte nicht auf. Er hickste, lachte und weinte. Es sah ganz nach Hysterie aus. Der General
ging zu ihm und schlug ihm kräftig auf den Rücken. Stas nickte dankbar und beruhigte sich.
»Nehmen Sie es mir nicht übel, Stanislaw, aber alle diese Fragen wird Ihnen der Ermittlungsführer stellen«, sagte Pleschakow
sanft. »Sie sollten also darauf vorbereitet sein.«
»Warst du bei der anderen Bank?«, fragte der General leise, ohne seinen Sohn anzusehen.
»Ja, natürlich. Dort war ich zuerst. Es war genau das Gleiche. Irgendwer hatte angerufen, sich für mich ausgegeben, den Diebstahl
der Brieftasche gemeldet und um Sperrung der Kreditkarte gebeten.«
»Das ist alles sehr merkwürdig«, murmelte Pleschakow nachdenklich, »wirklich sehr merkwürdig. Woher kann ein Unbekannter Ihre
Kontonummern erfahren haben? Das ist nämlich schwieriger, als jemanden umzubringen. Wesentlich schwieriger. Also, was haben
wir? Erst versucht jemand, Ihr Auto in die Luft zu jagen, dann werden Ihre Kreditkartengesperrt und Ihr Chauffeur getötet. Warum? Oder hat der Mord an Georgi nichts damit zu tun?«
»Georgi Sawjalow hat ein reiches Vorleben, er kann eine Menge eigene Probleme gehabt haben«, bemerkte der General. »Ich habe
ihn vor fünf Jahren aus dem Innenministerium zu mir geholt. Dort hatte er keinerlei Aussichten mehr. Er war als junger Bursche,
geborener Moskauer, ins Gebiet Archangelsk geschickt worden, als Wachoffizier in einem strengen Arbeitslager. Und was hat
man da für Perspektiven? Entweder man wird selbst zur Bestie, oder man wird von anderen Bestien gefressen.« Plötzlich trübte
ein wehmütiger Schleier die Augen des Generals; er ging zur Bar, griff nach einer Flasche »Napoleon« und stellte sie auf
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