Der falsche Engel
Augen.
Ein Trinker, der kein Telefon hat und vom Geld seiner Schwester lebt, ist zu nichts mehr fähig, dachte Stas. Zehn Jahre Lager
können jeden in ein Stück Dreck verwandeln. Oder war das Gegenteil möglich? Man kann im Lager auch stark werden, sogar sehr
stark. Könnte das mit Juri Michejew geschehen sein? Aber wenn er stark geworden wäre, würde er heute irgendwie anders leben.
Er dachte an den dünnen kleinen Burschen von damals. Mit zwanzig hatte Michejew ausgesehen wie ein Halbwüchsiger, hatte große,
runde blaue Augen gehabt und sanft gerötete Wangen. Wenn er etwas erzählte, zog er immer lustige Grimassen und gestikulierte
wild.
»Blödsinn!«, rief Stas leise. »Michejew ist ein Nichts, ein Schwächling, ein Jammerlappen. Ein Moskauer Junge aus einer Intelligenzlerfamilie,
verwöhnt und verzärtelt.«
Jemand klopfte an die Scheibe. Stas zuckte zusammen und drehte sich so abrupt um, dass er sich eine Sehne im Hals zerrte,
verzog vor Schmerz das Gesicht, dachte, dass ihm nun noch lange bei jeder Bewegung der Hals wehtun würde, und nahm das Mädchen,
das an die Scheibe geklopft hatte, nicht gleich wahr. Er sah nur einen Mantel aus dünnem cremefarbenem Leder, einen sandfarbenen
Seidenschal und üppiges, offenes helles Haar.
»Sind Sie Pjotr?«, fragte sie, als er die Scheibe herunterkurbelte.
»Und Sie sind Irina?« Er zwang sich zu lächeln und öffnete die Tür. »Steigen Sie ein. Es regnet.«
Sie hantierte lange mit ihrem Schirm herum, bevor sie sich endlich auf den Beifahrersitz fallen ließ. Sie sah ausgesprochen
gut aus, wie einem Modemagazin entsprungen. Groß, sehr schlank, silbrig-aschblondes Haar, das ihr schwer und atlasglänzend
über den halben Rücken fiel. Zarte weiße Haut, längliche Katzenaugen, aber nicht grün, sondern tiefschwarz mit perlmuttglänzenden
Augäpfeln. Hohe Wangenknochen, eine schmale, gerade Nase, ein großer, sinnlicher Mund. Sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit
ihrem unauffälligen, eher kleinen Bruder. Sofort roch es im Auto nach einem schwindelerregenden Parfüm. Stas registrierte
die großen echten Brillanten in ihren Ohren und an den Fingern und die Tasche und die Stiefel aus hellem Straußenleder. Die
Stiefel waren vollkommen sauber. Wäre sie auch nur ein paar Hundert Meter zu Fuß gegangen, müssten sie dreckbespritzt sein.
»Guten Tag, Pjotr.« Sie lächelte. »Sie sehen umwerfend aus. Ich hätte sie niemals erkannt.«
»Na ja, ist ja auch schon siebzehn Jahre her.« Stas erwiderte das Lächeln. »Wir haben uns nur zweimal gesehen, vor sehr langer
Zeit. Wie sollten Sie sich an mich erinnern?«
»Da irren Sie aber.« Sie warf das lange Haar zurück und schaute ihn unverwandt an. »Gerade an Sie, Pjotr, erinnere ich mich
besser als an andere. Sie waren so ein liebes Dickerchen voller Komplexe und mit einem albernen Pferdeschwanz, und ich war
ein junges Mädchen und ebenfalls voller Komplexe, darum sind Sie mir sofort aufgefallen. Als verwandte Seele. Sie haben mein
Tonbandgerät repariert. Die anderen haben im Nebenzimmer bei gedämpftem Licht getanzt, und Sie pusselten an meinem Kassettengerät
herum. Erinnern Sie sich?«
»Kein bisschen.« Stas zuckte die Achseln.
»Es hat noch lange funktioniert, das Gerät«, sagte sie mit honigsüßer Stimme, den Blick weiter auf ihn gerichtet. »Tja, Pjotr,
Sie waren ein gemütliches liebes Dickerchen, aber nun sind Sie ein richtig attraktiver Mann, man könnte glatt den Kopf verlieren.
Sind Sie verheiratet? Haben Sie Kinder?«
»Nein. Weder Frau noch Kinder.«
»Na so was.« Sie schüttelte ihr Haar. »Und ich hielt Sie für einen Familienmenschen, ich dachte, Sie würden bestimmt früh
heiraten und einen Haufen Kinder haben. Sagen Sie, wieso organisieren Sie plötzlich ein Absolvententreffen?«
»Wir wollen uns einfach mal treffen, einander anschauen.« Stas zuckte die Schultern.
»Und von wem stammt die Idee?«
»Das weiß ich nicht genau. Spielt das eine Rolle?« Er holte Zigaretten hervor.
»Darf ich auch?« Sie langte nach der Schachtel. Er musste ihr Feuer geben und die Scheibe ein Stück herunterlassen. Kleine
Regentropfen kamen hereingeflogen.
»Sie wollten mir etwas für Juri mitgeben.«
»Ich hab hier eine kleine Tüte. Lebensmittel, Socken, ein T-Shirt. Ach ja, eh ichs vergesse: Kaufen Sie ihm auf keinen Fall
Alkohol und geben Sie ihm kein Geld … Sagen Sie, darf ich mitkommen zu dem Absolvententreffen?«
Stas wurde der Mund trocken. Er
Weitere Kostenlose Bücher