Der Falsche Krieg
Legitimität verankert haben.
Eine andere Frage von großer Bedeutung ist die nach dem Staat: Die Regime sind zwar durchgehend verhasst, aber der Staat ist es nicht. Die Gesellschaften im Mittleren Osten sind gespalten zwischen kommunitären Bindungen 12 und Etatismus, und sie glauben, ob zu Recht oder zu Unrecht, dass allein der Staat das auf gemeinschaftlicher Verwurzelung fußende System überwinden kann. Noch stärker ist das Gewicht des Staates in den Gesellschaften, die von Ölexporten leben (Irak, Saudi-Arabien, Iran, Algerien), denn nur der Staat kann die Einnahmen verteilen. Es ist schwer abzusehen, wie man diese Einnahmequelle privatisieren sollte. Das ist im Übrigen ein Hindernis für die Entwicklung einer nicht-klientelistischen Unternehmerklasse, die dem Projekt Großraum Mittlerer Osten zufolge die Grundlage der Demokratie darstellt. Kurzum, man darf den Staat und eine interne Reform des Staates nicht ausklammern, aber die Reform muss als politische Aufgabe begriffen werden und nicht als technokratische.
Ein dritter Punkt betrifft die Anthropologie der Gesellschaften und des Islam, wobei erstere die implizite Grammatik der politischen Solidaritätsbeziehungen enthält und letzterer den expliziten Diskurs zur Überwindung gesellschaftlicher Spaltungen. Wie soll man die Demokratie in Gesellschaften etablieren, in denen die Zugehörigkeit zu einem Stamm oder Clan von zentraler Bedeutung ist und man für den Vertreter einer Gruppe stimmt und nicht für ein politisches Programm? Die Parlamente in Afghanistan und Somalia sind darum weniger Artikulationsforen politischer Parteien als Versammlungsorte von Honoratioren, deren Rivalitäten die politische Szene lähmen und bis zum Bürgerkrieg ausarten können. Diese anthropologische Dimension der Gesellschaften wird jedoch ignoriert, sie gilt als Hindernis. Die Herausforderung besteht darin, eine Demokratisierungspolitik zu finden, die in der anthropologischen Realität der Gesellschaft verankert ist, aber sie bleibt oft unbeantwortet, und man springt vom einen zum anderen, ohne die Optionen klar zu formulieren: Entweder werden Wahlen durchgeführt, als wäre die politische Bühne mit gut strukturierten Parteien besetzt, die Regierungsprogramme vertreten, oder man macht es wie die Briten im Südirak und nimmt Zuflucht zu einer Politik der Kooptierung lokaler Honoratioren, die als Gegenleistung für ihre Loyalität verschiedene Vorteile erhalten. Kurzum, eine solche Demokratisierungspolitik erlaubt nicht, dass sich eine traditionelle Gesellschaft durch echte politische Institutionen artikuliert.
In Somalia wie in Afghanistan haben die Neofundamentalisten, das heißt die Taliban und die islamischen Gerichte, die Überwindung von Stammeskonflikten unter Berufung auf die Scharia angeregt. Außerdem ist festzustellen, dass die Neofundamentalisten, für die die Scharia der Schlüssel zur Gesellschaft ist, in Stammesgebieten und ländlichen Regionen Erfolg haben, vor allem bei den pakistanischen und afghanischen Paschtunen, in Somalia und sogar im Jemen, während die Islamisten, für die der Islam eine politische Ideologie darstellt, früher eher in den Städten Zulauf fanden. Beiden Gruppen ist es vor allem mit Reden über den Islam gelungen, die Spaltungen zwischen Clans und Klientelgefolgschaften zu überwinden.
Die im Namen säkularer Ideen oder eines »liberalen Islam« agierenden Radikalen zu bekämpfen, wäre allerdings nur dann sinnvoll, wenn es glaubwürdige andere Akteure gäbe, aber das trifft zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur selten zu. Den politischen Islam a priori zurückzuweisen, ist vollkommen illusorisch, zumal der Mobilisierungsdiskurs heute im Mittleren Osten »islamo-nationalistisch« ist, wie wir seit langem beobachten können. Die Berufung auf die Scharia erfolgt oft aus rein politischen Gründen - man will sich gegen das westliche Modell abgrenzen.
Tatsächlich geht es primär um nationalistische Gefühle: Reformen sind unmöglich, wenn sie sich nicht in eine nationale oder sogar nationalistische Perspektive einschreiben. Doch das amerikanische Projekt richtet sich eindeutig gegen den Nationalismus. Die Palästinenser
wurden von der Bush-Administration aufgefordert, zuerst ihre Gesellschaft zu demokratisieren, bevor ihnen ein eigener Staat zugestanden werden sollte. Dahinter steht der Gedanke, dass ein demokratisches Palästina sich einem demokratischen Israel schon annähern würde, weil beide dann die gleichen Werte
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