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Der Falsche Krieg

Titel: Der Falsche Krieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Roy
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vollzogene Vermischung der genannten Begriffe verhindert jedoch gerade die Definition einer globalen Strategie und erklärt stattdessen zwei andere Dinge: einmal die Heftigkeit und Leidenschaft, mit der die Debatte geführt wird, welche immer vage und manchmal auch hysterisch ist, und dann die offenkundige Ohnmacht, der Wirklichkeit entsprechend zu handeln, weil man unfähig ist, eine kohärente Politik zu definieren. Eine solche Politik müsste die verschiedenen Imperative berücksichtigen, die konstitutiv sind für die Werte des Westens, den man verteidigen möchte, nämlich Freiheit, Integration, Sicherheit, Identität.
    Es stellt sich daher die Frage, ob man die Rolle des Islam und die Konflikte im Mittleren Osten überhaupt unter geostrategischen Gesichtspunkten analysieren kann.
     
    In der ideologischen Vision der Antifundamentalisten und der Anhänger der Theorie vom Zusammenprall der Kulturen lassen sich hinsichtlich einer »islamischen Bedrohung«
vier Ebenen unterscheiden, die allerdings nicht stringent präsentiert werden:
    • der Terrorismus als eine militärische Avantgarde, die durch gezielte Aktionen die Säulen des Westens untergräbt und dabei vorrangig Symbole auswählt und weniger die materielle Zerstörung sucht;
    • die Islamisten, die eine politische Konstruktion fordern (islamischer Staat, Kalifat);
    • die »Fundamentalisten« (die ich Neofundamentalisten nenne), die die Scharia durchsetzen wollen;
    • die »kulturellen« Muslime, die den Multikulturalismus oder kommunitäre Orientierungen verfechten und die zwar selbst nicht gewalttätig sind, aber den drei erstgenannten Gruppen den Weg bereiten, indem sie beispielsweise das Tragen des Schleiers verteidigen.
    Diese vier Ebenen werden im Allgemeinen durch eine ungenaue Verwendung von Begriffen wie »Islamisten«, »Radikale« und »Fundamentalisten« vermischt, und je nach Vorliebe der Autoren werden so unterschiedliche Personen wie Al-Qaida-Chef Bin Laden, der europäische muslimische Intellektuelle Tariq Ramadan, der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan oder der den Muslimbrüdern nahestehende Geistliche Scheich Qaradawi dazugezählt. Die Muslime in Europa erscheinen in diesem Kontext als eine mögliche fünfte Kolonne.
    Ich vertrete die Ansicht, dass es zwar Übergänge und Vermischungen gibt, die vier Ebenen aber unvereinbar
nebeneinanderstehen, sich in unterschiedlichen Räumen entwickeln, auf Aporien beruhen und nur in instabilen Systemen zur Entfaltung kommen; sie bringen einen Übergang und eine Spannung zwischen Entterritorialisierung und Dekulturation einerseits und Re-Territorialisierung und Akkulturation andererseits zum Ausdruck (wobei Letzteres für die Muslime im Westen so viel wie Verwestlichung bedeutet). 13
    Die geografische Verteilung der Rekruten von Al Qaida ist nicht deckungsgleich mit den Konfliktregionen im Mittleren Osten, denn bei Al Qaida findet man vorwiegend junge europäische Muslime der zweiten Generation und Konvertiten, aber weder Palästinenser noch Afghanen und sehr wenige Menschen aus dem Mittleren Osten. Die Islamisten wie etwa die arabischen Muslimbrüder haben mit dem internationalen Terrorismus nichts zu tun. Die Neofundamentalisten suchen sich ihre Gefolgsleute nicht im traditionellen Milieu, sondern bei Migranten und Flüchtlingen, in der »zweiten Generation«, in neuen sozialen Schichten oder bei Stämmen, die im Umbruch begriffen sind. Und schließlich bedeutet die Hinwendung zum Multikulturalismus keineswegs den Import fremder Kulturen, sondern drückt den Versuch aus, eine ethnisch-religiöse Gemeinschaft neu zu begründen in einem westlichen Kontext, der Säkularisierung und Dekulturation erzwungen hat.
    Wenn man die genannten vier Ebenen miteinander verknüpft, als stellten sie ein globales strategisches Phänomen dar, hat das zur Folge, dass man in der konkreten
Situation nicht damit umgehen kann. Und insofern in Europa eine Radikalisierung des Islam stattfindet, hängt das sehr viel mehr mit Phänomenen der Globalisierung und der Dekulturation zusammen als mit der Diaspora-Situation des Islam, das heißt mit den Verbindungen zu den Herkunftsländern und -kulturen.
Der Terrorismus
    Die Formulierung »internationaler Terrorismus« ist in strategischer Hinsicht inhaltsleer. Die Bush-Administration hat, als sie dem Terrorismus den totalen Krieg erklärte, eine moralische Kategorie daraus gemacht: der internationale Terrorismus als das absolut Böse, losgelöst von jedem

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