Der Falsche Krieg
Staates erklärten. Das ist die saudische Lösung. Sie ist offensichtlich schizophren, weil die Macht der Dynastie auf diese Weise als nur zufällig und nicht im Recht selbst begründet erscheint. Es ist auch die Lösung der Taliban in Afghanistan;
• indem sie betonen, dass die politische Logik auch im islamischen Staat Vorrang vor der Logik der Scharia hat: Für diese Version hat sich Ayatollah Khomeini im Iran wiederholt entschieden (1987 Verbot der Pilgerfahrt, obwohl sie eine religiöse Pflicht ist; Zulassung nächtlicher Durchsuchungen, obwohl dabei ein Mann mit einer nicht verschleierten Frau in Kontakt kommen kann, wenn nicht gar noch Schlimmeres möglich ist).
Die Unmöglichkeit, eine Gesellschaft allein in der Scharia wurzeln zu lassen, stellt offenkundig eine Quelle von Spannungen dar und erlaubt zunehmend radikaleren Gruppen, die Anwendung der Scharia zu verkünden. Aber das erklärt auch, warum man unvermeidlich zur Frage der Familie zurückkehrt, das heißt zur Stellung der Frau, denn beide Aspekte bieten in einer modernen Gesellschaft der Scharia letztendlich den einzigen Freiraum. Die Stellung der Frau und der Abfall vom Glauben sind die beiden und einzigen Prüfsteine bei der Frage, ob der Islam mit den »westlichen Werten« vereinbar ist.
Der kulturelle Islam und der Mythos von Eurabia
Eine ganze Reihe kürzlich erschienener Bücher behandelt das Thema der Islamisierung Europas. 15 Die Autoren vertreten eine klar geostrategische Sichtweise: Demnach haben wir es mit einer tektonischen Verschiebung zu tun, bei der sich der Mittlere Osten durch demografische Expansion territorial nach Europa ausdehnt. Das ergibt nur dann einen Sinn, wenn man jeden Menschen muslimischer Herkunft als Träger einer Art von genetischem Atavismus betrachtet, einer verinnerlichten muslimischen Kultur, deren Wertvorstellungen mit den westlichen unvereinbar wären.
Diese essentialistische, künstliche Sicht grenzt an einen Rassismus, wie er in Oriana Fallacis Buch Die
Wut und der Stolz ungezügelt zum Ausdruck kommt, und blendet offenkundig die tiefgreifende Veränderung des Islam und der Muslime als einer Konsequenz von Mobilität und Globalisierung aus. Denn auch eine vermeintlich festgefügte islamische Kultur entgeht den Veränderungen, Umgestaltungen, Synkretismen und der Dekulturation infolge der Globalisierung nicht; diese Prozesse hinterlassen Spuren, wobei es zu Spannungen und Gewalt kommen kann. Die Umwälzungen im Islam sind somit eher die Folgen einer oft stürmischen Integration. Der moderne Salafismus ist gleichermaßen die Konsequenz wie auch die Antriebskraft der Dekulturation, keineswegs bringt er die Reaktion einer traditionellen Gesellschaft zum Ausdruck, die die Modernisierung ablehnt.
Die Vorstellung, dass Europa definitionsgemäß den Liberalismus verkörpert und der Islam den Konservatismus, verzerrt die Debatte über die westlichen Werte heute, denn dort stehen sich nicht Orient und Okzident gegenüber, sondern, unter anderem, Abtreibungsgegner und Abtreibungsbefürworter, diejenigen, die für die Homosexuellen-Ehe sind, und jene, die dagegen sind, die Anhänger der absoluten Freiheit des Menschen und andere, die eine natürliche oder göttliche Ordnung bewahren wollen, insbesondere in der Bioethik und im Bereich der Meinungsfreiheit. Koalitionen, oft in unterschiedlicher Konstellation, bilden sich rund um die Verteidigung solcher Werte, und man findet auch »Westler« (Katholiken, Protestanten und Juden) im gleichen Lager mit Muslimen. Die interreligiöse Erklärung von
Lyon gegen die Homosexuellen-Ehe, die im Februar 2007 vom Lyoner Erzbischof Philippe Barbarin formuliert und von Rabbi Wertenschlag, vom Vorsteher der Moschee Kamel Kebtane und von lokalen protestantischen Vertretern unterzeichnet wurde, ist ein Beispiel dafür. Das seltsame Tandem, bestehend aus der katholischen Fundamentalistin Christine Boutin (als Städtebauministerin) und (ihrer Staatssekretärin) Fadela Amara, einer Antifundamentalistin muslimischer Herkunft, das 2007 von der Regierung Fillon eingesetzt wurde, zeigt, dass Allianzen nichts mit Parolen zu tun haben.
Vor allem mündet die essentialistische und paranoide Obsession nicht in eine konkrete Strategie. Logischerweise geht damit ein tiefer Pessimismus hinsichtlich der Zukunft der Menschheit (gleichgesetzt mit dem Westen) einher, der perfekt zum Pessimismus der radikalen Dschihadisten passt. Denn wenn man ihre Prämissen übernimmt - die Demografie schwemmt den Islam
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