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Der Falsche Krieg

Titel: Der Falsche Krieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Roy
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Eliten in vielen Fällen verhindert, dass eine nationale Unternehmerklasse entsteht und ausländische Investitionen ins Land kommen. Um Legitimität zu erlangen, setzen sie oftmals auf einen antiwestlichen Nationalismus (Syrien, auch Algerien für Frankreich), selbst wenn die politischen Führer vorgeben, sie unterhielten beste Beziehungen zu ihren europäischen und insbesondere zu den französischen Kollegen (Algerien, Ägypten). Der Maghreb wird wieder zu einem fruchtbaren Land für islamischen Protest in all seinen Formen, und Tunesien ist gewiss eines der schwächsten Glieder.
     
    Welchen Einfluss haben nun aber die islamistischen Bewegungen? In einer kritischen Situation, das heißt wenn auf Jahre der Spannungen und Korruption plötzlich freie Wahlen folgen, können sie bis zu fünfzig Prozent und sogar mehr erreichen, so etwa in Algerien 1990/ 1991 und in Palästina 2006, außer wenn die Wahl auf
kommunitärer Basis stattfindet und nicht auf ideologischer wie im Irak 2006. So würde es wohl auch in Marokko und Ägypten aussehen, wenn kurzfristig Wahlen stattfinden sollten. Aber in einer politisch stabilen Situation kommen die Islamisten auf nicht mehr als rund zwanzig Prozent (das höchste Ergebnis der Refah in der Türkei und das Ergebnis von Ahmadinedschad im Iran beim ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen im Juni 2005). Wenn sie mehr wollen, müssen die Islamisten entweder in eine Koalition eintreten oder um Stimmen jenseits ihrer traditionellen Basis werben. Und dafür muss ihr Programm anderes enthalten als die Scharia und den islamistischen Staat: Deshalb hat die türkische AKP mit dem Erbe der Refah-Partei gebrochen und konnte daraufhin die Wahlen 2002 mit 34,3 Prozent gewinnen. Ganz offensichtlich wollten die Palästinenser, die 2006 für die Hamas stimmten, weder die Zerstörung Israels noch die Scharia, sondern eine gute Regierungsführung, genau wie die Iraner, die Ahmadinedschad im zweiten Wahlgang 2005 ihre Stimme gaben. Das Thema der guten Regierungsführung und des Kampfs gegen Korruption, verbunden mit der Verteidigung der Nation und dem Widerstand gegen amerikanischen Einfluss, wird noch lange wichtig bleiben.
    Nur die allmähliche Öffnung der politischen Szene mit Wiederherstellung der Meinungsfreiheit und Errichtung einer echten Rechtsordnung wird gemäßigte Islamisten dazu bringen, die Demokratie und den Rechtsstaat zu akzeptieren.

Die Scharia und der Totalitarismus
    Oft wird von der Scharia gesprochen, als wäre sie Ausdruck des islamischen Totalitarismus. Hier herrscht totale Verwirrung. Man kann die Scharia als anachronistisch und antifeministisch ablehnen, aber sie ist in jedem Fall eine Rechtsordnung mit Normen und Auslegungen.
    Die Scharia ist nicht an sich willkürlich, sondern sie definiert einen Raum des Rechts, insbesondere in der Privatsphäre (wofür der Begriff haram steht ). Sie ist eine Rechtsordnung, die sich als unabhängig vom positiven Recht versteht, also vom Staat, ganz gleich, wie die Politik des Staates aussieht, und das gilt auch im Fall eines islamischen Staats. In den Augen der Neofundamentalisten kann der Staat nur erklären, dass die Scharia das geltende Gesetz ist, und dann muss er aufhören, Gesetze zu machen, von der Behandlung zweitrangiger Fragen abgesehen. Die vollständige Anwendung der Scharia bedeutet das Ende des allmächtigen Staates, weshalb sie unvereinbar ist mit einer totalitären Ordnung im eigentlichen Sinn. Totalitarismus kann nur in einem Staat bestehen, der in der Lage ist, durch einen Propaganda- und Kontrollapparat die Herrschaft über das Denken sicherzustellen (obwohl wir heute wissen, wie viele Löcher der bürokratische Apparat im Sowjetund im NS-System hatte). Daher hat noch nie eine Gesellschaft wirklich vollständig nach der Scharia gelebt, weil kein Machthaber bereit ist, Selbstmord zu begehen. Die Scharia-Gesellschaft ist ein Mythos - für die
einen ein Alptraum, für die anderen eine Utopie. Die Scharia ist dazu bestimmt, die Aporie eines jeden Staates zu bleiben, der sich auf den Islam beruft. Auf drei Wegen haben islamische Staaten versucht, dieses Problem zu lösen:
    • indem sie die Scharia auf das Personenstandsrecht, das Familienrecht und all das begrenzten, was mit Sitten zu tun hat, während sie alles Übrige dem positiven Recht unterstellten (das ist bis heute der häufigste Kompromiss);
    • indem sie die Regeln des Zugangs zur Macht komplett von der Scharia lösten und sie dann zum Rechtssystem des jeweiligen

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