Der falsche Mann
lassen. Das ganze Zeug, das ihm und seiner Familie zugestoßen ist – und den Familien von Stanley Keane und Bruce McCabe, diese üble Geschichte mit der Bruderschaft des Dschihad. Hätte ich das schon vor ein paar Wochen gewusst, hätte ich mehr daraus machen können.«
» Es war von Anfang an eine Aufholjagd«, sagte sie. » Du dachtest, es wäre ein simpler Fall von Schuldunfähigkeit. Das hast du selbst gesagt. Als man dir den Fall übergab, hat man dir erklärt, der Fall läge einfach. Ich meine, Jason, die Typen, die den Fall vor dir hatten – die haben nichts von alldem herausgefunden, oder? Du solltest stolz auf das sein, was du in dieser kurzen Zeit aufgedeckt hast.«
Unten auf der Straße, ein paar Blocks weiter, stolperte ein Mann, der mehrere Lagen Kleidung übereinander trug, über eine Kreuzung. Er wirkte betrunken. Er wirkte wie ein Obdachloser.
Alles hatte mit Tom begonnen und meinem Versprechen an Tante Deidre, dass ich alles in meiner Macht Stehende für ihren Neffen tun würde.
Tori kletterte vom Bett und trat zu mir. Sie schlang ihre Arme um mich und schmiegte ihren warmen Körper an meinen. Eine Ewigkeit standen wir so da. Ich legte mein Kinn auf ihren Scheitel und blickte hinaus auf die Stadt, in der ich aufgewachsen war, in der ich lebte und in der ich sterben würde.
» Was, wenn wir einfach weggehen?«, flüsterte sie. » Wenn das vorbei ist, meine ich. Wir könnten diese Stadt verlassen. Ich habe ein bisschen was geerbt und das Geld gespart. Wir könnten es tun, Jason. Wir könnten all das hinter uns lassen.«
Ich drehte mich um und sah sie an. Ich berührte ihre Wangen und schaute ihr in die Augen, die verzweifelt die meinen suchten. » Das würdest du tun? Mit mir?«
Einen Moment lang hielt sie meinen Blick fest, dann nickte sie.
» Wo würden wir hingehen?«, fragte ich.
» Irgendwohin.«
Irgendwohin? Mit mir? Offenbar hatte ich sie bisher falsch eingeschätzt. Mir war klar gewesen, dass sich etwas bewegte in unserer Beziehung, aber ich hatte nicht geahnt, dass sie innerlich bereits so weit war. Wie war das bei mir?
» Lass uns das zuerst zu Ende bringen«, sagte ich.
» Ja, du hast recht.« Sie nickte kaum merklich mit dem Kopf. Es war vernünftig so. Wir beide wussten das. Ich hatte keine Ahnung, wie dieser Fall ausgehen würde. Und ich hatte keine Ahnung, was von mir übrig wäre, wenn es so weit war.
90
Am nächsten Morgen traf ich frühzeitig im Gerichtsgebäude ein. Ich marschierte durch die Lobby, zeigte dem Deputy meine Anwaltslizenz, nahm den Aufzug in den siebten Stock, betrat den Gerichtssaal und setzte mich. Shauna erschien eine halbe Stunde vor Verhandlungsbeginn. Kurze Zeit später folgte das Team der Staatsanwaltschaft unter Führung von Wendy Kotowski. » Ich hab dein Resümee bekommen«, sagte sie zu mir und hielt es hoch. » Vor einer halben Stunde«, fügte sie eine Oktave tiefer hinzu. » Nicht unbedingt ein frühzeitiger Bescheid, Herr Anwalt.«
Ich nickte ihr zu. » Du wirst heute das Richtige tun, Wen.«
» Ich tue immer das Richtige«, sagte sie, ohne von ihrem Dokument aufzublicken.
In diesem Augenblick kam Tante Deidre herein. Ich konferierte kurz mit ihr, beschränkte mich dabei jedoch im Wesentlichen auf Plattitüden, die sie aufmuntern sollten. Die unschöne Wahrheit war, dass der Richter guten Grund hatte, alles abzulehnen, was ich hier und heute versuchen würde.
Um Viertel vor neun brachten sie Tom herein. Er sah an diesem Morgen etwas zerzaust aus, was seinem inneren Zustand jedoch sicherlich angemessen war. Ich beugte mich zu ihm hinüber und fragte: » Wie waren die Eier heute Morgen, Tom?«
Er lächelte kurz, was ich als ein gutes Omen betrachtete.
» Ungenießbar«, antwortete er.
Um fünf vor neun steckte der Gerichtsdiener, ein alter Knabe namens Warren Olive, den Kopf in den Gerichtssaal und blickte in die Runde. » Alle anwesend für den Fall Stoller?«
» Alle da«, antwortete ich im Namen aller.
» Der Richter erwartet Sie zu einer Besprechung in seinem Zimmer«, sagte Warren.
Das kam wenig überraschend. Wir trotteten alle nach hinten ins Richterzimmer. Richter Nash, der jedes menschliche Wesen auf diesem Planeten überlebt hatte, verwahrte hier Fotos und Erinnerungsstücke, die über siebzig Jahre alt waren. Die Wände seines Zimmers waren dicht behängt mit gerahmten Fotos, auf denen er mit sämtlichen Bürgermeistern dieser Stadt zu sehen war, an die ich mich erinnern konnte, und mit einigen demokratischen
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