Der falsche Mann
Hand auf die Brust, als wollte sie einen Eid auf die amerikanische Flagge leisten. Ihr Ehemann tätschelte ihr das Knie.
» Den wenigen Informationen über Ihre Tochter entnehme ich, dass sie eine ehrgeizige junge Frau war, die einen Aufbaustudiengang absolvierte und eine strahlende Zukunft vor sich hatte. Daher erscheint es Ihnen vielleicht seltsam, dass ich diese Frage stelle, aber ich habe meine Gründe dafür.«
» Sie sagen das so, als wüssten wir nicht längst, wer sie erschossen hat«, sagte Ray. » Es war Ihr Mandant. Also, warum zum Teufel diese Frage?«
Tränen rannen über Doreens Wangen. In einer Art Abwehrmechanismus drehte sie den Kopf zum Fenster, während ihr Mann mich wütend anstarrte.
Ich zuckte mit den Achseln. » Ich will mir lediglich ein eigenes Bild machen.«
» Sie wollen Kathy anschwärzen«, knurrte er durch zusammengebissene Zähne. » Ist es das? Wollen Sie unsere Tochter als eine Person hinstellen, die ihr Schicksal verdient hat?«
» Nein, Sir«, protestierte ich. » Ich will nur …«
» Sie wollen Ihren Mandanten entlasten«, unterbrach er mich. » Sie werden alles nur Erdenkliche behaupten, um diesen Prozess zu gewinnen. Und dabei ist Ihnen völlig gleichgültig, ob es die Wahrheit ist oder nicht. Wenn es sein muss, werden Sie sogar üble Gerüchte über Kathy verbreiten. Und wir sollen Ihnen dabei auch noch behilflich sein?«
» Ray …«
» Wollen Sie etwa behaupten, Ihr Mandant hätte unsere Tochter gar nicht getötet?« Ray geriet mit jedem Wort mehr in Rage. » Denn da wären Sie wirklich der Erste.«
Ich seufzte. Natürlich hätte ich ihm die Wahrheit sagen können, dass ich ernsthaft an Tom Stollers Täterschaft zweifelte, aber wieder einmal musste ich diverse Überlegungen unter einen Hut bringen. Falls Ray Rubinkowski mir wirklich etwas Bedeutsames mitzuteilen hatte, lohnte es sich, ihm – und damit der Anklage – meine Verteidigungsstrategie zu offenbaren. Standen die Chancen hinsichtlich dessen aber eher schlecht, legte ich meine Karten besser nicht offen.
Ich hatte gehofft, es würde nicht dazu kommen. Ich hatte gehofft, die Rubinkowskis würden einfach meine wenigen Fragen rasch beantworten, und ich könnte wieder verschwinden. Rückblickend waren diese Erwartungen natürlich völlig albern. Man kann nicht bei trauernden Eltern hereinschneien und damit rechnen, dass sie so eine aufgeladene Frage, wie ich sie stellte, ruhig und gelassen beantworteten.
Im Grunde wollte ich ihnen das Ganze auch gar nicht zumuten. Ich wusste aus eigener Erfahrung, wie hart es war, mit so einem Verlust fertigzuwerden. Man wird mit grausamen, unverständlichen Fakten konfrontiert und sucht einen Weg, sie zu verarbeiten und irgendwann damit zu leben. Mit der Zeit sorgt die ständige Wiederholung der schrecklichen Tatsachen im eigenen Bewusstsein für eine Art Abstumpfung. Am ersten Tag ist es noch unmöglich, auch nur die Worte auszusprechen – meine Frau und Tochter sind bei einem Autounfall gestorben; meine Tochter wurde von einem Obdachlosen erschossen –, aber mit der Zeit vernarben die Wunden. Und dann kommt jemand wie ich daher und sagt: Dieser furchtbare Schmerz, mit dem Sie endlich fertiggeworden sind? Nun, da stimmt etwas nicht. Wir müssen die Wunden wieder aufreißen. Wir müssen die ganze Geschichte noch einmal untersuchen. Sie müssen all das erneut durchleben.
» Nein, das behaupte ich nicht«, sagte ich. » Wir plädieren immer noch auf Schuldunfähigkeit.«
Ray und Doreen wandten sich einander zu, um etwas Trost zu finden. Ich ließ sie gewähren. Auf dem Kaminsims hatten sie ihrem einzigen Kind eine Art Schrein errichtet. Fotos von Kathy Rubinkowski mit Doktorhut und Robe bei ihrem Hochschulabschluss, als Kleinkind auf einem Pferd, am Küchentisch in die Kamera lächelnd, den Mund voller Zahnspangen.
Ich blickte zu Lightner, der unauffällig in Richtung Haustür deutete. Aber ich war noch nicht bereit zu gehen.
» Wie gesagt, Ray, Doreen, ich versuche, mir lediglich einen Überblick zu verschaffen. Ich wollte Sie nicht verletzten oder aufregen. Wenn Sie gestatten, habe ich nur noch eine einzige Frage.«
Ray straffte sich und wandte sich mir zu. Seine Kiefermuskeln waren geballt, das Gesicht rot vor Wut.
» Haben Sie der Polizei oder der Staatsanwaltschaft irgendetwas übergeben?«, fragte ich. » Ich habe bei der Beweisoffenlegung nämlich nichts gefunden.«
Ray, der sich innerlich schon bereit gemacht hatte, mich erneut herunterzuputzen, wurde durch die
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