Der falsche Mann
gewartet hatte. Wenn man auf Schuldunfähigkeit plädierte, hatten die staatlichen Psychiater das Recht auf ein eigenes Gutachten. Und Tom war den Ärzten der Anklage gegenüber ebenso verschlossen gewesen wie gegenüber Dr. Baraniq – und mir. Die Staatsanwaltschaft führte ins Feld, der Angeklagte habe es ihnen unmöglich gemacht, seinen Geisteszustand umfassend zu bewerten, daher könnten sie ihm keine Schuldunfähigkeit attestieren.
Bradley schnappte sich Shaunas Kopie und überflog sie. » Wie wird Nash auf den Antrag reagieren?«, fragte er.
» Vermutlich wird er ihn bewilligen«, sagte ich.
» Das scheint dich ziemlich kaltzulassen.«
» Hilft es vielleicht, wenn ich deswegen im Viereck springe?« Ich las den Antrag bis zu Ende durch. Er war gut geschrieben. Wendy hatte immer schon ein gutes Händchen fürs Texten gehabt. Bevor sie leitende Staatsanwältin beim Strafgericht wurde, hatte sie häufig anderen Staatsanwälten beim Abfassen ihrer Schriftsätze geholfen. Es gab ein » Antragsarchiv« im Büro der Staatsanwaltschaft, wo Muster diverser Anträge und Schriftsätze lagen, und viele davon waren von Wendy Kotowski verfasst.
Außerdem hatte sie jede Menge Zeit gehabt, diesen Schrieb zu entwerfen. Sie hatte schon vor Monaten gewusst, dass sie so argumentieren würde. Und warum auch nicht? Es war ein Freischuss aufs Tor. Raube einem Anwalt die Grundlage seiner Verteidigungsstrategie, und er steht mit leeren Händen da. Selbst wenn man nicht damit durchkommt, bindet man damit im Vorfeld des Prozesses die Energien eines Anwalts, denn er muss sich mit einer Antragserwiderung herumschlagen, statt sich auf die Verhandlung vorbereiten zu können. Wendy wusste genau, dass wir bei Tasker & Kolarich personell dünn besetzt waren.
» Und wenn sie damit Erfolg hat, wird sie als Nächstes versuchen, Hilton abzuschießen«, sagte ich. » Sie wird argumentieren, seine Aussage wäre nicht relevant, da es sich nicht um einen Fall von PTBS handelt, egal was Tom im Irak durchgemacht hat. Seine Kriegserfahrungen wären also für den Prozess irrelevant.«
» Und dann sind wir im Arsch«, sagte Bradley.
Ich warf meinen Football in die Luft und gab ihm einen leichten Drall. » Nicht notwendigerweise«, sagte ich.
» Warum das?«
» Zum einen können wir seinen gesundheitlichen Zustand anführen.«
» Gesundheitlicher Zustand – bei einem Prozess? Was hat das damit zu tun?«
» Junger Herr Bradley, was ist die Voraussetzung für Prozessfähigkeit?«
» Prozessfähigkeit … der Angeklagte muss in der Lage sein …« Er zögerte. » Der Angeklagte muss seine Anwälte bei seiner Verteidigung aktiv unterstützen können.«
» Korrekt. Und worin besteht die Verteidigungsstrategie in diesem Fall, junger Herr Bradley?«
» Schuldunfähigkeit.«
» Und wenn er mit mir nicht über den Fall redet, hilft er mir dann?«
Der junge Herr Bradley dachte nach. Ich zwinkerte Shauna zu. » Warte, lass ihn selbst drauf kommen«, sagte ich.
» Oh«, sagte Bradley. » Die Staatsanwaltschaft behauptet nun also dasselbe wie wir.«
» Absolut richtig.«
Shauna schaltete sich ein. » Wir stimmen mit der Anklage darin überein, dass Tom nicht über seinen Fall reden will. Also erneuern wir einfach unseren Antrag, Tom sei nicht prozessfähig, und können jetzt sogar Wendy Kotowski als Bestätigung anführen.«
» Genau das tun wir.« Ich warf den Football zu hoch und hätte ihn beim Runterkommen um ein Haar nicht erwischt. » Und das ist Wasser auf Nashs Mühlen. Er liebt es, wenn Anwälte sich in ihren eigenen Worten verstricken.«
» Und was bewirkt das?«, fragte Shauna. » Es verschafft uns einfach Zeit, richtig?«
» Richtig. Es verschafft uns Zeit, damit mein brillantes Anwaltsteam wertvolle verborgene Informationen aufspüren kann, die die Unschuld unseres Mandanten beweisen.«
Shauna setzte sich und musterte mich von der Seite. » Deshalb hast du also offiziell weiter mit Schuldunfähigkeit argumentiert. Obwohl es dir nicht gefallen hat. Du wolltest diese Strategie nie wirklich verwenden. Du wolltest nur einen Köder für die Anklage auslegen.«
Ich winkte ab. » Hey, bevor wir uns hier gegenseitig beglückwünschen, lass uns lieber an den einen großen Unsicherheitsfaktor in dieser Rechnung denken«, sagte ich. » Und der trägt den Namen Bertrand Nash.«
30
Gegen 20.30 Uhr kam Tori in der Kanzlei vorbei und brachte erste Arbeitsergebnisse mit. Ich hatte sie als Assistentin rekrutiert und die Protokolle der
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