Der falsche Mann
sodass niemand nachrücken konnte.
Ich mochte sie. Sie war geradeheraus und hatte einen Blick für Relationen. Sie war über das erforderliche Maß hinaus fair gegenüber der Verteidigung, aber im Gerichtssaal eine entschlossene Kämpferin.
» Wie geht’s den Zwillingen?«, fragte ich und nickte in Richtung der Fotos auf ihrem Schreibtisch. Zwei Jungs, die inzwischen zwölf oder dreizehn sein mussten.
» Gut, ihnen geht’s gut«, sagte sie und seufzte. » Sie haben gerade ihren Führerschein gemacht, aber ich will durchsetzen, dass sie nicht in die Stadt fahren, bevor sie nicht ihren Collegeabschluss haben.«
Da hatte ich mich wohl um ein paar Jahre vertan.
» Warum bin ich ein mieser Dreckskerl?«, fragte ich. » Deine Nachricht auf dem Anrufbeantworter war nicht sehr spezifisch. Es könnte jede Menge Gründe dafür geben.«
Wendy schaute sich in ihrem Büro nach irgendetwas um. Keine leichte Aufgabe bei den Papierstapeln überall auf dem Boden.
» Ich hab gehört, du hast den Rubinkowskis einen kleinen Besuch abgestattet.«
» Es war sehr nett, danke der Nachfrage.«
Sie legte den Kopf schräg und fixierte mich. » Versuchst du, einen Keil zwischen mich und die Familie zu treiben?«
» Würde mir nicht im Traum einfallen.«
» Nein, natürlich nicht. ›Könnte irgendjemand einen Grund gehabt haben, Ihrer Tochter zu schaden?‹ Was zum Teufel sollte das?«
Ich spielte den Unschuldigen. » Hey, du versuchst, Schuldunfähigkeit bei meinem Mandanten auszuschließen. Ich brauche einen Plan B.«
» Ja, und offensichtlich auch einen Plan C. ›Haben Sie Wendy irgendwelche Dokumente überlassen?‹ Glaubst du, ich weiß nicht, worauf du abzielst?«
» Auf was denn?« Nicht wirklich eine Antwort. Wendy musterte mich eine Weile lang.
» Ich kenne dich, Kolarich. Als du die Übernahme der Verteidigung beantragt hast, hab ich zu Connor gesagt …«
» Wie geht’s übrigens Connor?«
» Gut. Er lebt in Scheidung, aber es geht ihm gut.« Sie nickte. » Ich hab ihm gesagt, da ist Ärger im Anzug. Mir war klar, dass du irgendeine linke Nummer abziehen würdest.«
Sie wirkte müde um die Augen. Ihre widerspenstigen Locken hatten jetzt einen dunklen, kupferroten Ton; offensichtlich ergraute sie langsam und färbte sich die Haare. Keine gute Entscheidung aus meiner Sicht. Vielleicht war sie wieder auf Partnersuche. Sie hatte sich scheiden lassen, als die Zwillinge noch klein waren, und während unserer gemeinsamen Jahre im Büro der Staatsanwaltschaft war für sie der Gedanke an eine neue Beziehung tabu. Sie hatte sich ganz darauf konzentriert, ihre beiden Jungs auf den rechten Weg zu bringen und Kriminelle ins Gefängnis zu schicken. Zu einer anderen Zeit und unter anderen Umständen hätte ich sonst möglicherweise einen Vorstoß bei ihr gewagt.
» Vielleicht hast du von dem Fall Brady gegen Maryland gehört?«, fragte ich.
» Unsinn. Das ist Unsinn, und das weißt du«, sagte sie. » Dieses Dokument stellt kein entlastendes Material dar, das unterschlagen wurde, wie im Fall Brady. Es hat nichts mit diesem Fall zu tun. Und schon gar nichts mit einer Schuldunfähigkeits-Verteidigung.«
Allerdings hatte der Pflichtanwalt Bryan Childress bereits bei der Anklageerhebung gegen Tom Stoller sowohl auf Schuldunfähigkeit als auch auf nicht schuldig plädiert. Die duale Verteidigungsstrategie war eine reine Formsache gewesen, aber im Grunde lief meine Beweisführung inzwischen tatsächlich nicht mehr auf Schuldunfähigkeit, sondern auf ein klares nicht schuldig hinaus.
Natürlich hatte Wendy recht – das Dokument, das Mr. Rubinkowski mir überlassen hatte, verriet nicht viel, zumindest auf den ersten Blick. Es gab keinen Grund, warum Wendy es als für mich vorteilhaft hätte betrachten sollen. Zu meiner Zeit als Staatsanwalt war ich bei der Beweisoffenlegung immer unsinnig großzügig verfahren. Ich hatte der Verteidigung so ziemlich alles überlassen, was ich hatte. Das war zum einen Teil Berechnung und zum anderen Berufsethos: Wenn ich ihnen alles überließ, konnten sie mich nie eines Brady -Verstoßes bezichtigen, außerdem überschwemmte ich die Verteidigung mit jeder Menge unnötigem Material, unter dem die wirklich wichtigen Dinge möglicherweise verborgen blieben.
Wendy wartete auf meine Antwort. Als diese ausblieb, sagte sie schließlich: » Und?«
Sie wollte wissen, ob ich vorhatte, sie deswegen hinzuhängen.
» Was und?«, fragte ich.
» Willst du mich deswegen hinhängen?«
» Kein Gedanke.« Ich
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