Der falsche Mörder
geklingelt habe. Erwartet mich oberhalb einer engen Treppe, die bei jedem Schritt altersschwach knarrt. Bittet mich direkt ins Wohnzimmer.
Ich bleibe eine Weile am Fenster stehen und betrachte die Felsen am Hafen und die Inseln, die im dunkelblauen Fjord wie weiße Muscheln liegen. Nehme dann auf dem dunkelroten Sofa Platz.
Sigurlína hat schon den Couchtisch mit blauweißen Tassen gedeckt. Neben einem abgegriffenen Kartenspiel steht ein großer Teller mit Plätzchen und Tortenstücken.
Während sie den Kaffee holt, gucke ich mich im kleinen Wohnzimmer um.
Hier sieht es eigentlich aus wie in einem kleinen Museum. Voll gepackt mit alten Möbeln, Malereien, Porzellanfiguren und Fotos. Eine alte, geschnitzte Uhr und eine Waage mit zwei Schalen gibt es hier auch.
»Du hast ja eine richtig antike Sammlung«, sage ich, als Sigurlína mit der Kaffeekanne wiederkommt und in die Tassen einschenkt. Sie ist klein, schlank und zart gebaut. Mit dunklem Haar und braunen, stillen Augen.
»Oh, wenn ich’s nur lassen könnte«, antwortet sie, stellt die Kanne ab und setzt sich in den Sessel mir gegenüber.
»Das, was du hier drinnen siehst, ist das Einzige, was mir von meinem 77-jährigen Leben geblieben ist, abgesehen von den Erinnerungen, die auch langsam verblassen. Alles andere ist schon von mir gegangen.«
»Meinst du Sjöfn?«
»Nicht nur sie. Mein Mann starb vor vielen Jahren. Wir hatten einen Sohn, aber haben ihn durch ein Unglück auf See verloren. Die beiden starben ungefähr zur gleichen Zeit, als mein einziges Enkelkind, die kleine Sjöfn, gerade mal sieben Jahre alt war. Und jetzt ist sie auch schon fort.«
»Erzähl mir etwas über sie.«
»Nimm dir doch ein Stück Kuchen.«
Sigurlína schiebt den Teller näher zu mir hin.
Als ich mir ein Stück genommen habe, steht sie auf, geht zu einem dunklen Schrank, holt von dort ein Foto in einem breiten Silberrahmen und reicht es mir.
»Das ist ihr Konfirmationsfoto«, sagt Sigurlína und setzt sich wieder in ihren Sessel. »Sie war so ein hübsches Kind.«
Sjöfn hat ein weißes Kleid an. Mit weißen Blumen der Unschuld in ihrem hochgesteckten Haar.
Sie ist wirklich hübsch auf diesem Foto.
Aber mit einem ernsten Gesichtsausdruck.
Und der Blick freudlos. Widerspenstig.
»Was ist passiert?«
»Sie hing sehr an ihrem Vater und wollte immer bei ihm sein, wenn er an Land war. Das war manchmal schwierig, weil sie nicht verheiratet waren, er und Saeunn, aber sie wohnten ab und zu zusammen.«
Sie schüttelt den Kopf.
»Du kannst dir daher sicher vorstellen, wie Sjöfn der Tod ihres Vaters traf. Aber richtige Probleme gab es zu Hause erst ein paar Jahre später, als Saeunn geheiratet hat. Sjöfn hat sich mit ihrem Stiefvater nie verstanden.«
»Warum nicht?«
»Sie fing an, von zu Hause wegzulaufen«, fährt Sigurlína fort, als ob sie meine Frage nicht gehört hätte. »Zum ersten Mal, als sie vierzehn Jahre alt war. Am nächsten Tag haben sie eine Suchmeldung im Radio verlesen lassen, aber noch nachmittags am selben Tag klopfte sie hier bei mir an die Tür, denn sie hatte den Bus nach Westen genommen. Sie durfte ein paar Wochen bei mir bleiben, aber dann wollte sie wieder in den Süden nach Reykjavik.«
»Warum ist sie weggelaufen?«
»Sjöfn beschimpfte ihren Stiefvater mit vielen schlimmen Worten, manche davon hatte ich vorher noch nie gehört, aber sie hat mir nie direkt erzählt, was vorgefallen war. Aber ich hatte so meinen Verdacht.«
»Was denn?«
Sigurlína zögert die Antwort heraus.
»Früher sprach man nicht über solche Dinge, aber die Zeiten haben sich geändert. Heutzutage werden Privatangelegenheiten so großzügig unter die Leute gebracht wie früher Dung auf die Felder«, sagt sie schließlich. »Aber Sjöfn war sehr hübsch und frühreif, und man kann sich daher leicht vorstellen, was ihr Stiefvater vorhatte, zumal er schon immer ein Mann war, der gerne zur Flasche griff und auch sonst nichts als Probleme bereitete.«
»Lief sie noch öfter weg?«
»Ja, aber es war nur bei diesem ersten Mal, dass Sjöfn zu mir floh. Andererseits kam sie in jenen Jahren jeden Sommer hierher zu Besuch und blieb zwei bis drei Wochen bei mir. Aber sie war oft recht ruhelos und hielt es nicht lange hier aus, wo nichts los ist. Immer wenn Sjöfn sich zu beschweren begann, dass sie vor Langeweile sterben würde, war das für mich das Zeichen, dass sie bald wieder in den Süden fahren würde.«
»Was hat sie denn gelernt?«
»Sjöfn hatte kein Interesse an
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