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Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Der falsche Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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haben wir uns nur einmal getroffen, und das war irgendwie peinlich gewesen, das haben wir beide so empfunden. Was kann einen sechzehnjährigen Jungen und einen erwachsenen Mann schon verbinden? Dass beide Diver sind? Das zählt nur in der Tiefe . Und in ihr waren wir ja auch gleich, in ihr konnten wir Freunde sein …
    »Okay«, sage ich. »Dann schlafe ich halt nicht. Dann deliriere ich eben, leide unter einer Deep-Psychose.«
    »Ljonka, ich wurde ermordet.«
    »Ich weiß, Roman. Du hast Daten für eine Viruswaffe der dritten Generation geklaut …«
    Romka grinst.
    Als er noch am Leben war, hat er nie so gegrinst. Das ist das ironische Lächeln eines Erwachsenen. Seit dem Zeitpunkt, da wir uns das letzte Mal gesehen haben, muss er reifer geworden sein.
    Oder ist das erst nach seinem Tod geschehen?
    Die Gespenster der Erinnerung – mögen sie nun durch Schmerz, Sympathie oder das schlechte Gewissen entstehen – sind keine hölzernen Puppen. Sie leben in unserem Bewusstsein ihr eigenes Leben, altern und verändern sich, werden zu guten oder zu schlechten Menschen. Sie mutieren von Gespräch zu Gespräch, indem wir ihnen Fragen stellen – auf die wir uns dann selbst antworten.
    »Es geht gar nicht um die Viruswaffe, Leonid. Es ist alles noch viel schlimmer.«
    »Was soll das heißen?«
    »Du wirst schon noch dahinterkommen.« Romka beugt sich vor, als wolle er in die Schlucht spucken. Anscheinend hat er es jedoch verlernt zu spucken. Er starrt lediglich in die Tiefe, dann richtet er sich wieder auf. »Du wirst es garantiert herauskriegen. Und dann verstehst du alles. Das Einzige, worauf es ankommt, ist, dass du es rechtzeitig begreifst.«
    Mir wird mulmig zumute …
    Das ist kein Traum mehr. Das ist noch nicht mal ein Delirium. Obwohl: Woher will ich denn wissen, wie ein Delirium auszusehen hat?!
    »Was enthielten diese Dateien?«, frage ich ihn. Es ist mir völlig egal, wie dumm diese Frage klingt, die ich im Schlaf stelle. Die ich eigentlich mir selbst stelle. Es ist mir egal, denn ich weiß nicht mehr, wo die Grenze zwischen Wachen und Schlafen verläuft.
    »Das findest du heraus, sobald du in den Tempel gehst.«
    »Aber wie komme ich da hin? Das ist ein Weg von einer Woche. Und diese Zeit habe ich nicht.«
    »Stimmt.«
    »Was soll ich also tun?«
    Ich habe ihn selten um Rat gefragt, und selbst der geträumte Romka scheint jetzt verwirrt.
    »Leonid … du bist doch ein Diver. Gehe nicht die ausgetretenen Wege. Suche deinen eigenen.«
    »Meine eigenen … nur dass ich kein Diver mehr bin. Es gibt keine Diver mehr.«
    »Natürlich nicht. Das hast du schließlich so gewollt …«
    »Was habe ich damit zu tun?«
    Eine Frage, auf die es keine Antwort gibt.
    »Dieser Traum kotzt mich an, Romka!«, sage ich, um wenigstens etwas zu sagen. »Wenn du wüsstest, wie sehr mich dieser Traum ankotzt! Diese Felswände aus Eis und Feuer … diese idiotische Haarbrücke … diese beschissene Schlucht!«
    »Das ist das letzte Mal«, verspricht mir Romka. »Du wirst keine Träume mehr haben, Ljonka. Ehrenwort!«
    »Wirklich nicht?« In meiner Stimme liegt die Begeisterung eines Atheisten, der zum ersten Mal betet und dann eine beruhigende Stimme von oben vernimmt.
    »Bestimmt nicht. Du wirst keine Träume mehr haben, Ljonka. Selbst das ist eigentlich kein Traum.«
    »Wenn es kein Traum ist, was ist es dann?«, frage ich. Obwohl ich weiß, dass ich keine Antwort erhalte. »Romka, kannst du mir zumindest eine Frage beantworten?«
    »Welche?«, will er müde wissen.
    »Wer ist der Dark Diver?«, presse ich heraus. Und da wird mir klar, dass dies tatsächlich die entscheidende Frage ist. Mit meiner letzten Kugel habe ich ins Schwarze getroffen.
    Romka lässt sich Zeit mit der Antwort. »Willst du das wirklich wissen?«, sagt er schließlich.
    »Ja.«
    »Aber du kennst die Antwort längst, Leonid. Du kennst sie – du weigerst dich bloß, sie zu glauben.«
    »Roman … sag es mir! Bitte!«
    »Warum?«
    »Weil ich wissen will, wer für deinen Tod verantwortlich ist!«, erwidere ich in scharfem Ton.
    »Ich hege keinen Groll gegen ihn«, meint Romka geschwollen. »Wirklich nicht. Niemand konnte ahnen, dass alles so kommen würde. Wenn ich gleich abgehauen wäre …«
    Mit einem Mal schwankt er, als peitsche eine Windböe auf die Nebelfigur ein. Seine Lippen bewegen sich noch, doch die Worte höre ich bereits nicht mehr.
    Und von den Lippen lesen – das habe ich nicht gelernt.
     
    »Ljonka!«
    Ich schlug die Augen auf.
    Vika saß auf der

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