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Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Der falsche Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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gestern gewesen. «
    Ah, dieser ganze Lügenkladderatsch. Wahrscheinlich sollte ich jetzt wirklich besser gehen.
    Tiefe, Tiefe, ich bin nicht dein …
     
    Ich nahm den Helm ab und warf einen letzten Blick auf den Bildschirm. Auf die beiden Hacker und den Jungen, der so gern in der Tiefe schlief.
    »Vika, imitiere einen vom Timer ausgelösten Austritt aus der virtuellen Welt«, flüsterte ich.
    Das Bild erlosch. Dort, in der Kneipe Zum toten Hacker , würde der Körper von Revolvermann noch eine Minute weiterexistieren, erstarrt, unbeweglich und aufmerksam der Geschichte über den Tempel lauschend.
    Dann würde er klirrend zu Kristallstaub zerfallen …
    Mir tat alles weh. Es war, als hätte jemand mich gezwungen, zehn Stunden lang in einem alten Laster über einen Feldweg zu brettern. Ich stöpselte den Sensoranzug aus und zog mich aus. Auf dem Bildschirm prangte die gezeichnete Vika.
    »Vika, weck mich um halb zehn.«
    »Wird erledigt!«, antwortete sie mit einem leisen, zärtlichen Flüstern. »Der Wecker klingelt um halb zehn.«
    »Dann fahre dich jetzt runter«, sagte ich.
    Was sollten wir bloß tun? Was? Durchs Labyrinth zu preschen brachte absolut nichts. Auf die Hacker durften wir auch nicht
hoffen. Wenn die schon im Tempel gewesen waren, noch ehe der überhaupt gebaut worden ist …
    Als der Bildschirm erlosch und das leise, monotone Rauschen, an das ich so gewohnt war, dass ich es gar nicht mehr hörte, verstummte, hatte ich mich immer noch nicht vom Fleck gerührt.
    Es war halb fünf.
    Um diese Zeit verlassen selbst die letzten Einwohner Deeptowns langsam die Tiefe . Sie hoffen, in den drei, vier Stunden, die ihnen noch bleiben, den Schlaf einer ganzen Nacht nachzuholen.
    Aber das würde sich bald ändern. Denn schon in kurzer Zeit würde es Deeptown nicht mehr geben. Zumindest nicht in der Form, in der wir es kannten.
    Vielleicht war es ja besser so?
    Ich linste ins Schlafzimmer. Da war alles ruhig. Ich blieb kurz stehen, um auf das leise, gleichmäßige Atmen Vikas zu lauschen. Der echten Vika, nicht der gezeichneten. Der realen – die mir gerade deshalb so fern war.
    Sie hatte ja recht. In so vielen Punkten hatte sie recht, als sie auf die Tiefe verzichtet hatte. Oder fast verzichtet hatte.
    Aber nicht alle können den gleichen Weg gehen …
    Ich schloss die Tür und ging im Dunkeln zum Sofa. Wie vertraut mir doch diese Wegstrecke war! Ich legte mich hin und schob mir das harte Kissen unter den Kopf.
    Mein letzter Gedanke war: Hauptsache, ich träume nichts!

10
    Nebel wabert.
    Die linke Felswand besteht aus Eis.
    Die rechte aus Feuer.
    Ich stehe vor der Schlucht, direkt an der Brücke.
    Ich setze mich hin und lasse die Beine baumeln. Aus der dunklen, abgrundtiefen Schlucht steigt muffige Luft auf.
    »Schluss jetzt!«, erkläre ich dem Nebel. »Schluss! Mir hängt dieses Spiel zum Hals raus! Es gibt auch Träume, die einfach Träume sind. Das wusste selbst Väterchen Freud!«
    Aber ich glaube schon lange nicht mehr an simple Träume, in denen du einen gewundenen Gang langrennst, in einem altersschwachen Fahrstuhl feststeckst, das Licht nicht anschalten oder ein Feuer nicht löschen kannst, in denen du einem weggehenden Freund etwas hinterherrufst oder auf einen schallend lachenden Feind ballerst. Die Zeit, in der ich diese schlichten Träume hatte, ist längst vorbei. Mir ist nur ein Traum geblieben, den ich bis zum letzten Schritt kenne, bis zur einzigen Wahl am Ende: Feuer oder Eis.
    »Leonid …«
    Ich spähe über die Schulter zurück und bin mir sicher, dass ich niemanden sehen werde, dass sich mein unsichtbarer Gefährte wieder im grauen Nebel verbirgt.
    Aber nein, diesmal steht er hinter mir, von Nebelfäden durchbohrt, aus Nebelfäden geschaffen, das Gespenst eines Menschen, den es nicht mehr gibt.
    »Bringt es Glück oder Unglück«, frage ich, »wenn du im Traum einen Toten siehst, Romka?«
    Romka kommt zu mir und setzt sich neben mich. Sein Körper scheint sich immer weiter zu manifestieren, scheint mir sein Fleisch immer plastischer vorzugaukeln.
    »Du schläfst nicht, Leonid.«
    »Doch.«
    Romka schüttelt den Kopf.
    Er besteht ausschließlich aus grauer Dunkelheit. Seine Haut lässt keine Farbe erkennen, seine Augen, seine Haare sind nur Nuancen von Grau. Ich meine, eine lebendige Statue vor mir zu haben, die von einem geschickten Bildhauer aus plötzlich fest gewordenem Nebel herausgehauen wurde.
    Er steckt in dem Körper, in dem er normalerweise in die Tiefe ging. In der Realität

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