Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
Realität Deeptowns glauben! Denn ich bin versessen auf diesen Selbstbetrug!
Weil wir alle den Hals nie voll genug kriegen können! Ein Dach überm Kopf, die Sonne am Himmel, meine Hand in deiner, ein Stück Brot auf dem Tisch – was zählt all das schon im Vergleich mit jener fiktiven Welt? In der du wie ein Dschinn, der aus seiner Flasche ausgebrochen ist, deine Wunder vollbringen kannst. In der du Paläste bauen, Städte zerstören, dir einen Harem zulegen und Gelage feiern kannst. Deeptown ist ein Märchen, das Wirklichkeit geworden ist. Eine Droge von nie dagewesener Kraft …
Der erste Schritt ist am schwierigsten.
Das Bewusstsein zappelt noch in den Fängen des Deep-Programms, die Welt um dich herum wabert, steckt mitten in der Transformation. Ich befinde mich in einem kleinen Hotelzimmer. Ich hatte schon Paläste und öde Plattenbauten, ich hatte schon Waldhütten und Bungalows auf einer einsamen Insel.
Jetzt bin ich zu meinen Anfängen zurückgekehrt. Zu einem spottbilligen Standardzimmer in einem virtuellen Hotel. Jede Illusion ist gleich süß. Und gleich bitter.
Ich mache einen Schritt und sehe in den Spiegel.
Der Revolvermann schaut finster drein. Seine Augen zeigen die Farbe des Frühlingshimmels, die Pupillen sind nur kleine schwarze Punkte. Warum bleiben die Augen ein Spiegel der Seele, selbst wenn sie nur gezeichnet sind?
»Dann wollen wir uns mal an die Arbeit machen«, sage ich.
Mein Spiegelbild erwidert mein Nicken.
Ich habe noch etwas Zeit. Deshalb will ich mir, obwohl ich schon in der Realität gegessen habe, noch ein paar süße Wahnbilder gönnen, die den Joghurt und das Käsebrot vergessen lassen.
Kaum habe ich das Hotel verlassen, halte ich ein Taxi an. »Zum Fischerkönig «, verlange ich.
In ein Fischrestaurant zu fahren, um eine Tasse Kaffee zu trinken, ist natürlich absurd. Aber der Kaffee hier ist hervorragend.
Ich beobachte den Kellner, wie er in einer geradezu feierlichen Zeremonie einen arabischen Kaffee zubereitet. Das langstielige Metallgefäß steht inmitten heißen gelben Sandes, der Geruch steigt mir in die Nase …
»Entschuldigung, aber wir kennen uns doch, oder?«
Igel steht vor mir. Was für ein unglaublicher Spürsinn – denn im Körper des Revolvermanns hat er mich noch nie gesehen!
»Stimmt«, bestätige ich. »Ich bin Leonid … dieser stupide Biker …«
Igel strahlt übers ganze Gesicht und blickt fragend auf den Nachbarstuhl.
»Setz dich«, sage ich. In dem Moment wird mir klar, dass ich nur seinetwegen hierhergekommen bin.
»Herrje … meine Zeit ist gleich rum«, erklärt Igel, auch wenn das nicht besonders originell ist. Er streicht über sein kurzgeschnittenes Haar.
»Dann wollen wir deine Zeit mal verlängern«, gehe ich auf sein Spiel ein. »Hast du was Interessantes zu erzählen?«
»Passiert doch nichts mehr.« Igel seufzt und setzt sich. »Kellner! Für mich einen Kaffee und einen Kognak.«
»Du kannst mir nichts Neues erzählen?!«, frage ich erstaunt.
»Also … etwas gibt’s schon …«, murmelt Igel. »Angeblich geht’s im Labyrinth des Todes drunter und drüber. Die Spieler knallen sich gegenseitig ab, niemand hält sich mehr an die Regeln …«
»Das ist nichts Neues!«, halte ich dagegen.
Igel seufzt erneut und nickt bedeutungsschwer: Ja, ja, so ist das Leben. »Das Flitter und Glitzer hat was über Bastard gebracht«, kommt er auf unser früheres Gespräch zurück. »Angeblich ist er mit einer Waffe der dritten Generation kaltgemacht worden. Bastard soll vierundfünfzig Jahre alt und der älteste Hacker der Welt gewesen sein. Er hat in Magadan gelebt …«
Damit entlockt er mir nicht mal einen Kommentar.
Igel kratzt sich nachdenklich den Nacken. Heute hat er offenbar wirklich keine Geschichte, auf die ich anspringe.
Dabei geht es ihm meiner Ansicht nach gar nicht darum, mir ein paar Dollar aus der Tasche zu ziehen. Nein, wenn ich mich nicht täusche, findet er mittlerweile selbst Gefallen daran, mit den Gästen im Restaurant zu plaudern. Dahinterzukommen, wen was interessieren könnte.
»Angeblich wurde Dibenko vor Kurzem in der Tiefe gesehen …«
Damit könnte er doch noch einen Treffer gelandet haben.
»Ach ja?«, erwidere ich. »Und wo?«
»Auf einer Konferenz zu neuen Kommunikationsprogrammen. Er hat inkognito teilgenommen, aber Leute, auf deren Urteil ich etwas gebe, meinen, ihn erkannt zu haben.«
»Warum sollte der Schöpfer der Tiefe nicht bei einer solchen Konferenz auflaufen?«, frage ich. Und
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