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Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Der falsche Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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gemeldet.
    Nach dem Angriff des Imperators habe ich mir extreme Sorgen um Crazy gemacht.
    Dick selbst ist nicht in der Tiefe , er hat mir nur eine Nachricht hinterlassen.
    Als ich sie abrufe, baut sich ein Bild auf.
    Oho.
    Wir kennen nur selten die echten Gesichter unseres Gegenübers.
    »Hallo, Leonid.«
    Crazy ist wirklich schon alt, bestimmt über fünfzig. Genauer kann ich es nicht sagen – denn ich kenne zu wenig Schwarze.
    Und ich hätte nie im Leben vermutet, dass Crazy Tosser ein Schwarzer ist!
    »Ich habe nicht viel Zeit«, teilt mir Crazy mit. Er ringt sich ein Lächeln ab. In seinem Gesicht steht Schmerz geschrieben. Das Display zeigt ihn liegend, Schatten wuseln um ihn herum. »Ich
habe darum gebeten … wenigstens eine Minute. Das wird schon gehen. In unserer Welt stirbt man ja wohl nicht gleich am ersten Infarkt, oder?«
    »Bestimmt nicht, Dick«, sage ich, obwohl er mich nicht hören kann, denn zu dem Zeitpunkt ist er längst ins Krankenhaus gebracht worden. Um ihn kümmern sich jetzt Ärzte und Pflegepersonal, und ich bin sehr zuversichtlich, dass alles glimpflich abgeht. Richard ist kein armer Mann, das amerikanische Gesundheitssystem ist weit besser als unseres. Alles wird gut werden, anders kann es gar nicht sein.
    »Meine Tochter wird dir eine Mail schicken. Ich komme schon wieder auf die Beine. Mir haben die Nerven versagt, Leonid, ich werde wohl langsam alt. Alt und dumm. Aber gut …«
    Dick sieht zur Seite und nickt kaum merklich. Man treibt ihn zur Eile an. Keine Ahnung, was er da wem gesagt hat, was er zusammengelogen hat, damit man ihm erlaubt, weiter in die Kamera zu sprechen. Vielleicht etwas von einem wichtigen Vertrag, von einem Eine-Million-Dollar-Geschäft.
    »Ich bin fest davon überzeugt, dass du es in den Tempel geschafft hast. Und dass du tust, was getan werden muss. Viel Glück … Diver. Bring die Sache zu Ende … auch für mich alten Dummkopf mit schwachen Nerven. Viel Glück!«
    Das Bild verschwindet.
    Das war’s.
    Mir fällt ein, wie Dick die Gesichtszüge entglitten sind, als der Imperator fragte, wer wir seien.
    Das richtet diese künstliche Intelligenz also an. Das ist der Fortschritt. Er tötet – auf eine zumindest annähernd reale Weise.
    Nein, ich glaube nicht, dass der Imperator Crazy Tosser mit einer Art Waffe der dritten Generation angeschossen hat. Wahrscheinlich sind daran wirklich eher Crazys Nerven schuld. Die Anspannung, die Müdigkeit … und das kranke Herz.
    Dennoch ist das Leben, das Dibenko geschaffen hat, schon heute imstande zu töten.
    Ich öffne die Tür, spähe vorsichtig in den Gang hinaus, verlasse das Zimmer und schließe ab.
    Während ich die Treppe hinuntergehe, sende ich Dibenko eine Bitte um ein Treffen auf den Pager. Ich warte nicht gern – und wahrscheinlich bin ich gerade deshalb ständig dazu gezwungen.
    Ein Taxi zu erwischen ist dagegen in Deeptown fast nie ein Problem. Kaum hebe ich die Hand, hält auch schon ein Wagen. Der Fahrer ist ein junger Punk mit buntem Iro und einer zerrissenen Jacke, die er über dem nackten Oberkörper trägt. Offenbar ein Programm. Ich nenne die Adresse und mache es mir im Fond bequem.
    Die Straßen sind verstopft, sodass wir kaum vorwärts kommen. Wir lassen den Platz der Virtuellen Welt hinter uns und biegen irgendwo ins chinesische Viertel ein.
    »Ob das wirklich schneller geht?«, bemerke ich.
    Chinatown ist erst vor Kurzem in der Tiefe entstanden, denn China wollte der virtuellen Community sehr lange nicht beitreten. Aber am Ende konnte das Land eben doch nicht widerstehen.
    Jetzt wächst das Viertel rasch an. In der virtuellen Welt gibt es mehr als genug Raum. Vermutlich gefällt das den Chinesen.
    »Mhm«, sagt der Fahrer.
    »Sicher? Eine Abweichung vom Routing …«
    »Mhm.«
    Mit einem Mal missfällt mir die Art, in der er antwortet.
    Ich starre auf den kräftigen, ausrasierten Nacken. In Gedanken wiederhole ich das Gespräch.
    Computergenerierte Fahrer sind von Natur aus höflich. Bis zur Unhöflichkeit lakonisch zu sein – das bringt nur ein Mensch fertig.
    Noch ehe ich den Gedanken zu Ende gedacht habe, melden sich in meinem Inneren die Instinkte, ein Vorgefühl oder die Intuition.
    Schon im nächsten Moment presse ich dem Fahrer Dibenkos Pistole an den Nacken. Sanft, aber nachdrücklich.
    »Halt sofort an!«
    Über den Geschäften leuchten bunte Lichter, ein Papierdrachen segelt am knallblauen Himmel, alle – ausnahmslos alle – Menschen lächeln.
    »Anhalten«, nuschelt der Fahrer –

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