Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
und gibt Gas.
Das ist kein Programm! Ich habe einen Befehl gegeben, und der Fahrer hat mir nicht geantwortet. Er hat mir nicht gehorcht und den Befehl nicht ausgeführt. Nur ein Mensch kann lügen und auf Zeit spielen.
»Das wirst du noch bereuen, Freundchen. Ich habe eine Waffe der dritten Generation.«
Der Fahrer dreht den Kopf zu mir zurück und grinst.
Mir stockt der Atem. Er sieht mich an – und gleichzeitig rast er weiter und bewegt das Lenkrad.
»Ach ja?«, bringt er heraus. »Und was soll mir das sagen?«
Mir kann nichts passieren. Mir darf nichts passieren. Ich bin in der virtuellen Welt, verflucht noch mal, und das Schlimmste, was …
Das Schlimmste, was mir hier passieren kann, ist zu sterben.
Plötzlich läuft uns jemand vor den Wagen, es folgt ein stumpfer Schlag, und ein Körper fliegt an den Straßenrand. Schreie. Das ist nicht weiter besorgniserregend, natürlich nicht, denn bei einer außergewöhnlich starken physischen Belastung wird der automatische Austritt aktiviert. In Deeptown verliert jeder Unfall seinen Schrecken, das Opfer kann aufstehen, seine Kleidung abklopfen und weitergehen. Aber früher oder später könnte er eine reale Straße überqueren, ohne sich um die Autos zu scheren …
Der Fahrer bricht in schallendes Gelächter aus. Er muss doch verstanden haben, dass er eben jemanden angefahren hat. Dennoch lacht er.
»Halt an!«, wiederhole ich.
Was will er? Mich in der Tiefe festhalten? Mich irgendwo hinbringen, wo ich nicht hin will?
»Gleich«, kanzelt er mich ab.
Er sieht in die Mündung der Pistole und grinst, öffnet den Mund und schiebt langsam die Lippen über den Lauf.
Das ist Wahnsinn. Das muss irgendeine nie dagewesene sexuelle Abart sein: der Knarre einen zu blasen.
Mit einem Mal verstehe ich Crazy Tosser, der das Feuer auf den Imperator eröffnet hat.
»Spar dir deine Witzchen«, sage ich, während mein Finger die Waffe entsichert. »Ein für alle Mal!«
Wir rasen noch immer durch die engen Gassen Chinatowns. Inzwischen ist jeder Zweifel ausgeräumt: Das ist nicht der kürzeste Weg zu Dschingis’ Haus. Das Taxi scheint förmlich durch die Straße zu pflügen, die Menschen bringen sich vor uns in Sicherheit und geben uns den Weg frei.
»Drei …«, drohe ich.
Was hat dieser Kerl vor?
»Zwei …«
Abermals ernte ich nur ein amüsiertes Grinsen. Dieser Scherzkeks! Zum Glück besitze ich auch Sinn für Humor. Die ersten fünf Schüsse lähmen — wenn ich Dibenko glauben durfte.
»Eins!«
Der Fahrer bremst.
Doch mir bleibt keine Zeit, mich über seine Einsicht zu freuen. Das Auto hat in einer engen, zugemüllten Gasse gehalten, an einer Hauswand lehnt ein Mann in schwarzem Mantel.
Mit einer Pistole in der Hand.
Ich schaffe es gerade noch, mich wegzuducken, als die Kugel in die Scheibe einschlägt. Der Fahrer dreht sich zu mir um, schnappt grinsend mit seinen Zähnen nach meiner Pistole und versucht, sie mir auf diese Weise aus den Händen zu reißen. Er ist unglaublich kräftig.
In dem Moment drücke ich ab.
Weißer Staub wirbelt auf, ein Geruch nach verbrannten Knochen breitet sich aus. Die zerfetzten Zähne bilden nur noch eine Wolke, die im Wagen hängt.
»Aua«, jodelt der Fahrer – und schmunzelt.
Immerhin hat er die Pistole freigegeben. Anstalten zu sterben macht er jedoch keine, ja, er ist noch nicht mal gelähmt.
Seine Zähne haben Abdrücke auf dem Lauf hinterlassen.
Dieses Schwein von Dibenko!
Jetzt übernehmen wieder meine Instinkte das Kommando: Ich ziehe mit der linken Hand die Waffe des Revolvermannes, reiße sie hoch und gebe einen Schuss auf die grinsende Fratze ab.
Mit der zweiten Generation ist alles in Butter. Sogar mehr als das.
Seine Kiste müsste sich jetzt aufgehängt haben, der Prozessor durchgebrannt sein, genau wie bei mir neulich. Der virtuelle Körper müsste erstarren oder sich auf der Stelle in Luft auflösen.
Doch der heutige Tag steckt voller Überraschungen.
Die Kugel ist in seinen Hals eingedrungen. Er hat sich das Virus, das Paket elektronischer Impulse oder den Trojaner eingefangen. Da ich keine Ahnung habe, wie die korrekte Bezeichnung für diese Munition lautet, bleibt es für mich eine Kugel.
Und für den Fahrer anscheinend auch.
Er schreit, greift nach seinem Hals und presst sich die Hände auf die Einschussstelle. Blut strömt durch seine fest aneinander
gepressten Finger, die sich in die Wunde bohren und sie aufreißen …
… bis unter den gekrümmten Fingern Metall hervorschimmert und ein
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