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Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Der falsche Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Runde hin, meine werten Kampfgenossen. Der Junge hat recht, ihr schreit hier das ganze Haus zusammen …«
    Er stand auf und schnappte sich dabei mit einer geschmeidigen Bewegung die noch fast volle Balsam-Flasche. Dschingis bemerkte es entweder nicht oder hatte nichts dagegen.
    »Irgendwie hat er recht«, murmelte er, den Blick aufs Fenster gerichtet. »Meinst du nicht auch?«
    »Dass wir alle noch eine Runde schlafen sollten?«, fragte ich scheinheilig.
    »Dass wir immer erst einmal alle verdächtigen und fürchten. Dass wir immer mit dem Schlimmsten rechnen. Sicher, das musst du, manchmal rettet allein dieser Argwohn dir das Leben. Aber was, wenn die Sache hier ganz anders liegt?«
    »In dem Fall wüsste ich auch nicht weiter«, gab ich ehrlich zu.
    »Eben.«
    Dschingis erhob sich, ging zum Fenster, blieb davor stehen und steckte die Hände in die Taschen.
    »Was schlägst du denn vor?«, fragte ich. »Was willst du machen, wenn du nicht weißt, welcher Weg zum Guten führt und welcher zum Bösen?«
    Dschingis nahm Bastards Kippe nachdenklich an sich und zündete sie sich an. »Wie er diesen Mist nur rauchen kann«, brummte er.
    »Sollen wir etwa tatenlos zusehen?«, gab ich mir selbst Antwort. »Das bringt auf lange Sicht gar nichts. Sollen wir umkehren? Das käme einer Kapitulation gleich …«
    »Du gehst durch einen Wald und triffst auf eine hohe Mauer«, sagte Dschingis unvermittelt. »Was machst du?«
    »Das Spiel kenne ich.«
    »Dann erinnere dich, was du geantwortet hast.«
    »Ich gehe etwa einen Kilometer nach rechts. Wenn die Mauer nicht endet, gehe ich zwei Kilometer nach links. Danach versuche ich, sie zu überwinden.«
    »Tatsächlich?«, hakte Dschingis nach.
    »Ja.«
    »Ich habe übrigens geantwortet, es hinge vom Ziel ab. Wohin ich aus welchem Grund will.«
    Dschingis drückte die Papirossa aus und zündete sich eine von seinen eigenen Zigaretten an. Irgendwie rauchte er heute mehr als sonst.
    »Nun haben wir schon Winter.«
    Daraufhin stand ich ebenfalls auf, trat ans Fenster und sah nach unten.
    Schnee. Weißer, sauberer, flockiger Schnee. Er funkelte nicht in der Sonne, dazu war der Himmel zu wolkenverhangen. Aber es war richtiger Schnee. Der jetzt bis zum Frühling bleiben würde.
    »Bald kommt Neujahr«, sagte Dschingis. »Apfelsinen, Kuchen im Ofen, Salat, Sekt … Ein Tannenbaum, Lametta, bengalische Feuer, Girlanden … Gäste, Musik, Späße und Glockengeläut … Hört sich an wie ein Test im freien Assoziieren, findest du nicht auch?«
    »Kater, Müll, Müdigkeit und ein verlorener Manschettenknopf …«, ergänzte ich. »Ist es nicht das, was dir als Erstes einfällt? «
    »Ich mag den Sommer lieber als den Winter«, entgegnete Dschingis lächelnd. »Aber er endet immer. Was meinst du, Leonid, wäre das nicht schön? Ein endloser Sommer – wenn auch in der elektronischen Welt. Selbst wenn von dir nur eine Kopie in ihr lebt … Trotzdem wäre es der ewige Sommer. Erinnerst du dich noch, wie wir in der Tiefe standen und du gesagt hast, dass der Sommer vorbei ist? Und jetzt könnte er ewig anhalten.«
    »Das muss jeder für sich selbst entscheiden, Dschingis«, antwortete ich leise. »Was ist dir wichtiger? Der Sommer … oder der ewige Sommer? Das Leben oder die Illusion von Leben …«
    »Ich bin ein lebender Mensch!«, versicherte er – nicht lächelnd, sondern geradezu feixend. »Ich lebe. Ich werde leben. Und der Sommer wird nicht so bald enden.«
    Warum biss er sich so am Sommer fest?
    Mich hatte er offenbar völlig vergessen. Er blickte zum Fenster hinaus, schaute auf den weißen Schnee, die Aschesäule fiel von seiner Zigarette, das Lächeln in seinem Gesicht schien festzufrieren.
    »Wir haben auch jetzt Sommer. Nur eben mit Frost. Aber der nächste Sommer wird kommen … Ich spüre schon seinen Atem, der leicht über die verschneiten Blätter hinweggeht … der Sommer …«
    Er tat einen tiefen Zug an der Zigarette.
    Was war das für ein Gespräch? Selbst auf der Bühne, selbst in einem Stück aus dem 19. Jahrhundert redete niemand so.
    Und schon gar nicht redeten reiche Müßiggänger so, wie charmant und gebildet sie auch sein mochten.
    »Der heiße Wind, der dir über die Wange streicht, der Geschmack von Erdbeeren auf den Lippen, die Sterne am Himmel, das warme Wasser, in das du eintauchst … der Sommer … Er geht so schnell zu Ende, dass du nicht mal schreien kannst: Stehengeblieben! Dabei habe ich schon seit Langem den Eindruck, dass er noch hier ist. In meinen

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