Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
Fingerspitzen lebt die Erinnerung … die Erinnerung an den Sommer. Mit einem Zittern, einem Zucken, mit dem Kopf, den ich dem Regen entgegenstrecke, mit einem leisen Lachen und einem zufälligen Lächeln erinnere ich mich an den Sommer … Immer nur an ihn. Man kann dir sagen, dass er vorbei ist, gleichwohl suchst du seine Spuren, rennst ihm hinterher und erwischst ihn doch nie … Dennoch bleibt der
Sommer da. Und du wandelst auf seinen schmelzenden Spuren … fährst zwei Stunden im Auto, sitzt drei Stunden im Flugzeug, gehst ein Stück zu Fuß … nur um zu ihm zu gelangen. Wo, weiß ich nicht. Aber wir brechen immer auf. Weil wir den Sommer suchen. Einen kleinen, winzigen Sommer. Ein zartes Überbleibsel des Sommers. Mehr brauchen wir nicht, denn sonst würden wir in der Hitze sterben … der Sommer …«
»Dschingis«, sagte ich sanft. Doch er hörte mich nicht. Er jagte seinem Sommer nach.
»Gebt mir mein Stück vom Sommer … Er lebt doch sowieso in mir. Für immer. Mein Sommer. Wie er war, wie er ist und wie er sein wird. Ein ewiger Sommer! Ich weiß genau, wie er endet. Wie die gelbe Sonne in einer purpurroten Abenddämmerung versinkt. Wie der Wind anfängt, nach Schnee zu riechen. Diesem Wind habe ich zugelächelt. Ich habe ihn gebeten, sich zu gedulden. Nur noch ein wenig. Lass mir den Sommer noch ein Weilchen!, habe ich gesagt. Aber der Wind hat solche wie mich schon zur Genüge gesehen. Als er noch warm war, hatte er sich nicht mit mir gestritten. Sobald er jedoch kalt wurde, flüsterte er: Der Sommer ist zu Ende. Ich habe ihm erst nicht geglaubt. Doch der Sommer war tatsächlich vorüber. Es regnete. Kalter, trister und grauer Regen ging nieder. Und da habe ich die Hand ausgestreckt und einen Tropfen aufgefangen. Mein Spiegelbild darin gefiel mir nicht. Das bin ich nicht!, habe ich dem Tropfen erklärt. Da gefror das Wasser zu einer winzigen Eisperle. Und in dem Moment habe ich begriffen, dass dies mein Spiegelbild war. Am Schrecklichsten dabei war, dass das Eis auf meinem Handteller nicht geschmolzen ist. Also war meine Hand sogar kälter als dieses Eis.«
Dschingis lachte.
»Und da habe ich begriffen, dass der Sommer vorüber war.«
»Was ist mit dir, Dschingis?«, fragte ich.
»Nichts, es ist alles in Ordnung.«
Er schnippte die erloschene Zigarette in den Ascher. »Kennst du so etwas nicht, Leonid?«, wollte er wissen. »Diese große Versuchung. Hast du noch nie den Atem des ewigen Sommers gespürt? Was bedeutet denn schon diese Waffe von Dmitri Dibenko! Hätte er sie nicht entwickelt, hätte es früher oder später ein anderer getan. Deshalb wollen wir ihn nicht an dieser Waffe messen. Sondern an der Tiefe . Am ewigen Sommer. Am Leben, der Illusion von Leben … Kommt es denn darauf an, ob ich den Sommer finde oder mein Doppelgänger? Leonid, einen Dschinn kannst du nicht in einem Tonkrug einsperren. Die Tiefe wird sich verändern. Egal, ob wir etwas unternehmen oder nicht. Vielleicht helfen wir ihr, zu einer neuen Welt zu werden? Vielleicht sollten wir auf der Stelle unsere Passwörter eingeben, Artificial nature auf unseren Rechnern installieren … und in den Sommer aufbrechen.«
»Nein«, sagte ich.
»Warum nicht?«
»Da sind auch noch Maniac, der Magier und Crazy. Von ihren Worten hängt ab, ob ich mich an mein Passwort erinnere. Und dann ist da noch Vika. Von ihren Worten hängt ab, ob ich im Sommer leben möchte. Vergiss auch Dibenko nicht, der sich seit Langem seine Meinung zu alldem gebildet hat. Oder den Dark Diver. Mich würde brennend interessieren, was er eigentlich vorhat. «
»Das sind zu viele Wenn und Aber«, brachte Dschingis heraus. »Zu viele Bedingungen bei einem einzigen Sommer, der für alle reichen muss.«
Hinter uns schluchzte jemand. Ich fuhr herum.
Bastard stand an der Wand und wischte sich mit seinem schmutzigen Taschentuch die Tränen ab.
»Dschingis!« Er schnäuzte sich geräuschvoll. »Dschingis, zwitschere noch etwas weiter vom Sommer, ja? Mir fällt gar nicht
mehr ein, was da noch alles zugehört. Aber fehlen nicht noch das Bett im Kornfeld und die Badehose, die eingepackt werden muss?«
»Du bist ein herzloses Schwein«, blaffte Dschingis ihn an. »Ein herzloses und unromantisches Schwein.«
»Ich? Ich bin wegen meiner Papirossa hier. Und die hast du mir weggeraucht. Aber ich verzeihe dir, Dschingis. Wenn du nur noch ein wenig vom Sommer flötest … Kriegst du das eigentlich auch über den Frühling hin?«
»Nein. Denn der Frühling
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