Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
den Rechner an und beobachtete, wie der Bildschirm zum Leben erwachte.
Mich gab es nicht. Niemanden von uns gab es noch. Das hatte ich doch richtig verstanden, oder?
Unbändige Wut kochte in mir hoch.
Unter uns liegt jetzt gelber Wüstensand. Es ist heiß, verdammt heiß sogar, und Windböen zwingen mich, die Augen zusammenzukneifen. Vor mir klafft eine hundert Meter breite Schlucht, auf der anderen Seite erhebt sich eine orientalische Stadt. Minarette, Kuppeln, alles in orangefarbenen, gelben und grünen Tönen.
All das hatte also nie existiert?
Über den steilen Hang zieht sich eine dichte Decke aus flachen Sträuchern. Im starken Wind muss ich die Augen zukneifen. Am Himmel hängen Wolken. Der Fluss braust und hat etliche Stromschnellen, obwohl wir nicht in den Bergen sind. In der Ferne steigt ein Schwarm großer Vögel auf, keine Ahnung, was für welche, so nah kommen sie nie herangeflogen.
Und auch das hatte es nie gegeben! Niemals!
Die blaue Flamme funkelt im Gras, setzt aber nichts in Brand und wirft keinen Schatten. Der Stern ist in einen Talkessel zwischen zwei Hügeln gefallen. Etwas weiter hinten beginnt eine Felsformation, die völlig fremd wirkt und aus einer anderen Welt gerissen zu sein scheint.
All das ist bloß ausgedacht! Von unerfahrenen Usern und untalentierten Entwicklern, deren Server abgestürzt ist! Eine neue Mythologie. In Wirklichkeit hatte es immer nur staubige Bildschirme gegeben, überlastete Rechner, starre Augen und versteinerte Gesichter von Menschen, die ihren VR-Anzug in den Deep-Port ihrer Kiste gesteckt hatten. Nur das hatte es gegeben – und daran hatte sich nichts geändert …
Meine Finger berührten die Tasten. Ich biss mir auf die Lippe, bis es schmerzte. Gleich würde Vika aus dem Bad kommen und mich in der typischen Position vorfinden: am Rechner, die Finger auf den Tasten, die Augen vom VR-Helm verborgen, den Blick ins Nichts, in den Strom gleichgültiger, durch das Netz rasender Impulse gerichtet. Sie würde mich ansehen, vielleicht
ein verheddertes Kabel auseinanderpulen, vielleicht die Balkontür ein Stück ranziehen, damit es nicht zu sehr zog.
Und dann würde sie sich umdrehen, um allein schlafen zu gehen. Ihr Notebook auf dem Nachttisch würde vergeblich auf sie warten.
Deep.
»Ich bin keine Nachteule«, teilte ich wem auch immer mit. Vielleicht Nedossilow, der im Taxi hockte und die ganze Zeit seine Erklärungen für den Fahrer, seine Doktoranden und die kalte Nacht um ihn herum vom Stapel ließ.
Enter.
Ein kreisender Regenbogen, der sich selbst in den Schwanz biss.
Die Tiefe .
100
Ich schlage die Tür des Hotelzimmers hinter mir zu und bleibe im Gang stehen. Wie immer in der Tiefe werde ich sofort nüchtern. Nur die abgehackten Bewegungen und eine gewisse Umtriebigkeit zeugen noch von dem Alkohol, den ich getrunken habe.
Mich gibt es also nicht?
Das wollen wir doch mal sehen!
Ich gehe zum Zimmer 2017, blicke mich noch einmal um, doch der Gang ist leer. Hervorragend, auch wenn sich niemand über einen Mann wundern würde, der aus einem Zimmer herauskommt und in einem anderen verschwindet.
Sobald ich den Code eingebe, springt die Tür auf.
Die Schwelle, die noch vor ein paar Stunden ein unüberwindbares Hindernis dargestellt hat, jagt mir jetzt keinen Schrecken mehr ein. Ich betrete das Zimmer und mache die Tür hinter mir zu.
Um mich herum nichts als Stille.
Aber nicht die Stille eines viel genutzten Hotelzimmers, sondern eine Stille, wie sie auf einem Friedhof, in einem aufgegebenen Hangar oder in einer regennassen Schlucht herrscht. Und selbst wenn ich mir diese Stille bloß ausgedacht habe – jetzt ist sie Realität.
Ich meide den Blick auf das Bild an der Wand und gehe zum Schrank. Er hat kein Schloss, wozu auch. Wer die Zimmertür aufkriegt, würde am Schrank garantiert nicht scheitern.
Wenn nur Vika in der realen Welt nicht auf den Bildschirm schaut!
Als ich die Türen öffne, geben sie ein leises, trauriges Quietschen von sich. »Hallo«, sage ich.
Schlaff wie Gummipuppen, aus denen die Luft entwichen ist, und in den Geruch von Staub und Mottenkugeln gehüllt hängen die Menschenkörper im Schrank.
Ich strecke die Hand aus, um einen der Schrankbewohner zu berühren. Ein hagerer, großer Mann mit dunkler Haut und blassblauen Augen, der zwei Halfter am Gürtel trägt. »Hallo, Revolvermann. «
Er schweigt. Ohne mich ist er aufgeschmissen.
Ohne mich sind sie alle am Arsch.
Ein Barttyp mit komischer Kleidung. »Sei gegrüßt,
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