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Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Der falsche Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Scheibe hervor, legte sie ins Laufwerk und startete den Computer abermals.
    Zunächst war alles wie immer.
    Nur hingen am blauen Himmel keine Wolken.
    Außerdem waren die Icons auf dem Desktop transparent, sodass ich sie kaum erkennen konnte. Aber das musste sein, sonst hätten sie das Gesicht überdeckt.
    »Hallo, Vika«, sagte ich.
    »Gutes Zeitfenster, Leonid.« Das Gesicht auf dem Monitor runzelte die Stirn. Die designte Vika brachte nicht viele Gefühle zustande. Freude, Trauer, Neugier und Zweifel. Alles in Reinform – und damit das genaue Gegenteil vom realen Leben. »Seit dem letzten Start hat es beträchtliche Veränderungen in der Hardware gegeben. Soll ich sie konfigurieren?«
    »Ja«, bestätigte ich.
    Ehrlich gesagt, wusste ich nicht, ob Vika, mein individuelles Interface, mit der neuen Version von Windows Home klarkam. Auf der Betaversion hatte ich sie noch laufen lassen, aber das lag fast ein Jahr zurück.
    Die Vika auf dem Monitor wartete geduldig.
    Ich stand auf, zog die Anschlüsse raus und ging ins Bad, um meinen Kopf unter kaltes Wasser zu halten. Mein Rausch war
längst verflogen, nur in meinem Bauch grummelte es noch, und mein Mund war völlig ausgetrocknet.
    Wer hatte mir da aufgelauert? Und vor allem: warum? Mir, einem harmlosen Bürger Deeptowns, einem Möbelpacker bei HLD?
    Wer wollte mir ans Leder?
    Oder eher: nicht mir, sondern dem Diver Leonid.
    Dem Diver? Blödsinn!
    Diver gibt es nicht mehr. Das ist doch zweifelsfrei bewiesen…
    Mit einem Mal erwischte ich mich dabei, wie ich grinste. Es spielt nämlich überhaupt keine Rolle, wer dir bestätigt, dass du noch etwas wert bist, ein Freund oder ein Feind. Hauptsache, das bestätigt dir überhaupt jemand.
    So musste ein Soldat grinsen, der wegen Krankheit zurückgestellt wurde – und dann einen Einzugsbefehl kriegt. Eigentlich hat er keinen Grund zur Freude, der Fetzen Papier verspricht nichts Gutes …
    Und trotzdem!
    »Ich bin noch nicht tot!«, flüsterte ich meinem Spiegelbild zu. »Verdammt noch mal, ich bin noch lange nicht tot!«
    Das Spiegelbild bewegte die Lippen und wiederholte lautlos meine Worte.
    Wie hypnotisiert strich ich mit der Hand über den kalten Spiegel. Ich grinste wie ein Honigkuchenpferd. Egal. Ich holte den alten Rasierer heraus, sprühte mir Schaum auf die Hand und fing an, mich zu rasieren. Ganz langsam und sorgfältig. Anschließend sprühte ich mir etwas Eau de Cologne auf Wangen und Hals. Danach versuchte ich, eine seriöse Miene aufzusetzen, scheiterte jedoch. Worüber um alles in der Welt freute ich mich bloß so? Etwa darüber, dass ich wie ein Hund geprügelt worden war?
    »Wem bin ich bloß auf den Schwanz getreten?«, fragte ich mein Spiegelbild. »Was meinst du?«
    Im Kühlschrank entdeckte ich Cola und Saft. Ich trank den Saft, weil die Phosphorsäure, mit der die schlauen Cola-Hersteller das Zeug angereichert hatten, meinen Mund nur noch weiter austrocknen würde. Jetzt war es 00.45 Uhr. Entweder hatte Vika ihre Arbeit erledigt oder die Kiste hatte sich aufgehängt.
    Der Rechner lief, Vika lächelte mich vom Bildschirm aus an.
    »Wie sieht’s aus?«, fragte ich, während ich den Helm und den Anzug anschloss.
    »Das System ist stabil. Die Ressourcen reichen aus.«
    »Dann geh ins Netz. Die übliche Verbindung. Figur Nr. 3, Proteus. «
    »Wird erledigt«, sagte Vika mit einer kaum noch wahrnehmbaren Verzögerung. Ein Glasfaserkabel war eben kein olles Telefonkabel!
    Ich setzte den Helm auf und lehnte mich auf dem Stuhl zurück.
    Hol mich doch …! Alles genau wie früher.
    Jedenfalls fast.
    Deep.
    Enter.
     
    Der Biker und der Revolvermann liegen immer noch auf dem Bett. Ich stehe vom Stuhl auf und betrachte mich im Spiegel. Bestens. Proteus zeigt genau die Veränderungen, die ich an ihm vorgenommen habe: Ein Mann um die dreißig mit intelligentem Blick …
    Völlig überflüssigerweise schleiche ich auf Zehenspitzen zur Tür, reiße sie mit einem Ruck auf und hechte in den Gang hinaus – eine lächerliche Vorsichtsmaßnahme. Hier ist niemand. Nur das von einer Kugel durchbohrte Bild liegt noch auf dem Boden.
    Ich hebe es auf, um es mir genau anzusehen. Die Kugel hat ausgerechnet die Hütte getroffen. An ihrer Stelle prangt jetzt ein Fleck verschmierter Farbe, die aus sechzehn Tönen gemischt ist.
    Die Hütte ist unwiderruflich verloren.
    Ich bringe das Bild ins Zimmer, lege es oben auf die beiden schlaffen Körper. Beim Rausgehen schließe ich hinter mir ab, dann stiefle ich nach unten. Ich

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