Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
den ersten Schritten bleibe ich stehen und fahre herum. Aber nein, der Gang ist leer.
Also habe ich mich wirklich getäuscht.
Ein erneuter Abstecher ins Zimmer 2017, um das Bild von der Wand zu nehmen. Einen Moment lang stehe ich wie versteinert da und starre auf die designte Landschaft.
Eigentlich ist an dem Bild nichts Besonderes. Unnatürlich hohe Berge, die trotzdem völlig real wirken. An einer Schlucht steht eine kleine Berghütte, am hohen Himmel hängen einzelne, schneeweiße Wolken. Mehr nicht.
Mit dem Bild in der Hand trete ich wieder auf den Flur hinaus – und werde sofort aus unmittelbarer Nähe unter Beschuss genommen.
Der Schuss klingt stumpf, nicht wie das ohrenbetäubende Knallen einer Winchester der Bullen. Immerhin etwas. Durch die grelle Explosion kann ich jedoch nicht mehr das Geringste erkennen. Ich lande auf dem Rücken, und ein dumpfer Schmerz breitet sich in meiner Brust aus. Vor meinen Augen tanzen bunte Kreise, mein Körper erschlafft und verweigert mir den Gehorsam.
Eine dunkle Silhouette beugt sich über mich, vor meinem Gesicht schimmert matt ein Pistolenlauf samt aufgesetztem Schalldämpfer auf.
Ich bin schon verdammt lange nicht mehr getötet worden. Das letzte Mal, bevor ich endgültig gestorben bin …
»Das ist eine Warnung.« Die Stimme klingt hohl und künstlich. »Kapiert?«
Proteus schweigt, Proteus ist taub, Proteus ist ausgeschaltet.
»Hast du mich verstanden? He!«
Kaum berührt die Hand des Unbekannten meine Schulter, setzt die Transformation ein.
Krallen zerkratzen den Körper meines Angreifers, eine gewaltige Pranke haut ihm mit einem einzigen Schlag die Pistole aus der Hand. Schon im nächsten Moment bin ich auf den Beinen – auf vier Beinen. Ich fletsche die Zähne. Ein Schneeleopard ist ein eher kleines Tier, aber es ist ja auch nicht seine Größe, die ihn gefährlich macht.
Wenn ich doch bloß wieder klar sehen könnte! Wenn diese bunten Schlieren endlich verschwinden würden! Das ist ja, als ob du das Deep-Programm auf einer uralten Kiste mit einer noch älteren Grafikkarte lädst. Abgehackte Bewegungen, verschwommene Konturen …
»Ich wiederhole: Das ist bloß eine Warnung.«
In der Stimme liegt nicht die geringste Panik. Und das gefällt mir nicht.
Tiefe, Tiefe, ich bin nicht dein …
Ich nahm den VR-Helm nicht mal ab, denn ich wusste, was mich erwartete: Die Displays des Helms zeigten ein verwackeltes, milchiges und grobes Bild. Sechzehn Farben können die bunte Welt Deeptowns eben nicht adäquat wiedergeben. In der Tiefe hatte ich trotz allem wesentlich besser gesehen, weil mein Unterbewusstsein verzweifelt alle Störungen gefiltert und die fehlenden Bilder ergänzt hatte.
Deep.
Enter.
»Wer bist du?«, frage ich halb brüllend, halb knurrend.
»Hast du das immer noch nicht begriffen?«, erwidert die plumpe Figur amüsiert.
»Nein!«
»Dann streng deinen Kopf an!«
Ein weiterer Schuss.
Aber ein lautloser. Überhaupt ist nicht mehr der leiseste Ton zu hören. Toll, jetzt bin ich nicht nur halb blind, sondern auch noch taub.
Der Körper von Proteus übernimmt das Kommando. Er speit Feuer, worauf der Schneeleopard sich in eine Flammensäule verwandelt. Allein eine Berührung von mir bringt jetzt den Tod.
Wenn ich auch noch wüsste, wen ich da eigentlich berühre … Ich sehe nichts, ich höre nichts … stolpere durch den Gang, fuchtele mit den Armen …
Wer auch immer auf mich geschossen hat, er ist längst über alle Berge.
Er ist abgehauen, nachdem er getan hat, was ihn hier hergeführt hat.
Ich bin mutterseelenallein in diesem Gang, eine aus Feuer geschaffene Figur, von geballter Kraft – und absolut hilflos.
Tiefe, Tiefe, ich bin nicht dein …
Auf dem Monitor herrschte ein gewaltiges Chaos in Himbeerrot, Gelb und Purpur, aus den Kopfhörern drang kein einziger Ton.
Der Kerl hatte mich fertiggemacht. Nach allen Regeln der Kunst. Erst hatte er mir das Augenlicht geraubt, und als das nichts half, auch noch das Hörvermögen.
Ich beugte mich vor und drückte auf Reset. Der Rechner fiepte widerwillig und startete sich neu.
Nachdem ich den Helm auf dem Tisch abgelegt hatte, sah ich erst einmal auf die Uhr.
Gerade mal halb eins. Im Schlafzimmer war alles dunkel, Vika längst nicht mehr wach.
Noch liefen die Zeilen des BIOS über den Bildschirm, der blaue Hintergrund mit den Wolken und der Desktop hatten sich noch nicht aufgebaut. Eine Sekunde lang zögerte ich.
Doch dann holte ich aus einem Stapel DVDs die unterste
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