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Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Der falsche Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Stühle, wartet, bis ich Platz genommen habe, und legt mir die Speisekarte hin.
    »Reissalat, Tempura, Sake«, bestelle ich, ohne einen Blick in die Karte zu werfen. Heute ist zwar nicht Donnerstag, aber dann spendiere ich mir halt einen persönlichen Fischtag.
    Das Gesicht des Kellners spiegelt Irritation wider. »Wenn Sie die japanische Küche bevorzugen, würde ich Ihnen einen anderen Platz empfehlen.«
    Alles klar. Ich sitze am falschen Tisch, denn der ist für chinesisches Essen gedacht.
    »Ich gehe davon aus, dass mein Freund etwas Chinesisches bestellt«, entgegne ich. »Und den Sake für mich bitte nicht zu heiß, ich mag ihn eher lauwarm.«
    Eine höfliche Verbeugung, und der Kellner zieht ab.
    Zu was für Gourmets wir in der Tiefe doch werden!
    In der realen Welt schlingen wir zerkochte Nudeln und angebrannte Hacksteaks aus der Tiefkühltruhe runter. Aber im virtuellen Raum, da darf der Sake bitte nicht zu heiß sein, da muss das Beefsteak nur ganz leicht medium sein …
    Wen wundert’s da noch, wenn du dir eine Deep-Psychose einfängst?
    Maniac ist mit Sicherheit noch nicht da, denn er würde mich mit einem Blick erkennen. Proteus ist seine Arbeit und hat wahrscheinlich ein paar Marker, die nur er kennt.
    Jetzt sollte ich wohl noch mal in aller Ruhe über die Geschichte nachdenken.
    Wie steht’s mit meiner Ausrüstung? Neben ein paar alten Avataren habe ich bloß noch ein paar Angriffsprogramme, die man kaum als effizient bezeichnen darf. Dann noch diverse eingeschlafene Kontakte …
    Halt! Stopp! Bevor ich mein Waffenarsenal durchforste, sollte ich mir erst mal darüber klar werden, ob ich mich überhaupt auf einen Kampf einlassen will.
    Was habe ich denn in der Hand? Da ist Igels Story, an der ich mich irgendwie festgebissen habe, und da ist ein Unbekannter, der mich angegriffen hat, während ich meinen alten Kram inspiziert habe.
    Dieser Ansatz bringt mich jedoch auch nicht weiter.
    Nein, die entscheidende Frage ist: Was verspreche ich mir von der ganzen Sache?
    Warum habe ich nicht alles, was ich im Fischerkönig gehört habe, auf der Stelle wieder vergessen? Warum lässt mich die Warnung des Unbekannten kalt? Warum bin ich so erpicht auf diese Schwierigkeiten?
    Klar, es war längst überfällig, den Job bei HLD zu schmeißen und mir eine interessante Arbeit zu suchen, bei der auch noch was raussprang. Es ist ja schließlich nicht so, als ob ich gar keine Erfahrung oder Kenntnisse hätte. Die Tiefe braucht Designer und Künstler, vor allem jetzt, da sie so rasant wächst, noch dazu unabhängig von allen Krisen und Konflikten der realen Welt.
    Wenn das nur nicht hieße …
    Solange ich gezeichnete Klaviere durch die Gegend schleppe, bewahre ich eine ironische Distanz zu meinem Schicksal. Wenn ich meine Diver-Fähigkeiten, die niemand mehr braucht, auf diese Weise einsetze, ist das etwa so, als spiele ein arbeitsloser Musiker in einer Straßenunterführung Gitarre. Denn damit trägt er seinen Trotz zur Schau. Er signalisiert nämlich, dass er noch immer auf Erfolg, Anerkennung und eine beleuchtete Bühne über dem dunklen Abgrund des Zuschauerraums wartet. Wie hatte es der Sänger vorhin ausgedrückt? Nur konnt’ er nicht unterlassen, was er tat/Er, der bunten Kreide Gott, der bunten Kreide Sklav’.
    Wenn der Musiker jedoch erst mal das vergilbte Diplom der gastronomischen Berufsschule aus dem Schrank kramt und eine Arbeit in der Kantine um die Ecke annimmt – dann ist das Spiel für ihn aus. Und zwar unwiderruflich. Dann ist er ein gemachter Mann, kein abgerissener Bettler mehr, dann setzt er Speck an und ist mehr oder weniger abgesichert.
    Nur dass er dann nie wieder die Gitarre zur Hand nehmen wird, nicht mal kurz. Nicht mal abends, wenn Freunde zu Besuch kommen – bei denen es sich nicht um arme Musiker handelt, sondern um anständige Leute, mit einer festen Stelle.
    Genau das will ich nicht.
    Auf eine Gelegenheit wie diese warte ich seit zwei Jahren. Gut, seit anderthalb Jahren. Seit wir Diver überflüssig geworden sind. Seit ich kapiert habe, dass ich ohne Job dastehe. Ich habe nie gewusst, was der Anlass für meine Rückkehr aufs Spielfeld sein würde. Ich habe immer nur eins gehofft: Gebe Gott, dass ich diese Chance nutze.
    Der erste, noch ganz zarte Hinweis ist die Geschichte gewesen, die Igel mir erzählt hat.
    Von der Sache hätte ich beinahe überhaupt nichts mitgekriegt – dabei gab es mal Zeiten, da hätte ich als einer der Ersten erfahren, was dem Hacker Bastard passiert

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